# taz.de -- Vorwurf: Streik | |
> Tausende Bauarbeiter legten am neuen Istanbuler Flughafen die Arbeit | |
> nieder und protestierten gegen die Arbeitsbedingungen. Nun stehen viele | |
> von ihnen vor Gericht, weil sie von ihren Rechten Gebrauch gemacht haben. | |
Bild: Unterstützer*innen der angeklagten Bauarbeiter nach der zweiten Verhandl… | |
Von Pınar Öğünç | |
Am neuen Istanbuler Flughafen haben am 14. September 2018 tausende Arbeiter | |
die Arbeit niedergelegt. Sie protestierten damit gegen die | |
Arbeitsbedingungen auf der Baustelle: nicht bezahlte Löhne, ein nicht | |
funktionierendes Transfersystem, abgelaufenes Essen, schlechte medizinische | |
Versorgung, Bettwanzen. Konkreter Auslöser des Aufbegehrens war der Unfall | |
eines Transferbusses, bei dem mutmaßlich mehrere Arbeiter gestorben sind. | |
Die Regierung wertete die Proteste als „geplante Provokation“. Die Polizei | |
rückte mit Wasserwerfern an. Sie führte Razzien in den Unterkünften der | |
Arbeiter durch. An nur einem Tag wurden mehr als 600 Arbeiter festgenommen, | |
31 wurden verhaftet. Die Staatsanwaltschaft klagte 61 Arbeiter und | |
Gewerkschafter an. | |
5. Dezember 2018: Im fünften Stock des Gerichtsgebäudes in Gaziosmanpaşa | |
wurde im hinteren Teil des Gerichtssaals ein Transparent angebracht. | |
„Gerechtigkeit ist die Grundlage des Staates“, steht darauf. Hier werden an | |
diesem Tag die 61 Arbeiter angeklagt, die nicht mehr bereit waren, die | |
Arbeitsbedingungen auf der Baustelle des dritten Istanbuler Flughafens | |
hinzunehmen und dagegen protestierten. Die Arbeiter, die im Saal unruhig | |
auf den Prozessbeginn warten, sind alle noch sehr jung. Nur wenige | |
Angehörige der Arbeiter haben es zum Prozess geschafft. Die meisten von | |
ihnen wohnen weit weg von Istanbul auf dem Land. Diejenigen, deren | |
Angehörige gekommen sind, drehen sich immer wieder nervös zu ihnen um. | |
## Die Wut der Arbeiter hat sich seit 2013 angestaut | |
Nazife Tuncay ist heute wegen ihrer drei Neffen im Gerichtssaal, den | |
angeklagten Bauarbeitern Ramazan und Servet Gözel und deren Cousin Cihan | |
Sarıburak. Sie betet die ganze Verhandlung über für ihre Neffen. Die Mutter | |
von İlker Kurt, einem anderen angeklagten Arbeiter, wartet draußen in der | |
Kälte. Sie erzählt, dass ihr Sohn vor lauter Aufregung schon seit einer | |
Woche nicht mehr schlafen könne. Tezcan Acu, Mitglied der Bau-Gewerkschaft | |
İnşaat İş, hat mit Mühe und Not freibekommen, um bei der Verhandlung dabei | |
sein zu können. Er ist heiser, weil er ständig irgendwem vom Kampf der | |
Arbeiter am dritten Istanbuler Flughafen berichtet. | |
In der Anklageschrift steht, dass diese Menschen – die sich sechs Tage lang | |
in einem kleinen Teich gewaschen haben, weil es auf der Baustelle kein | |
Wasser gab, die mit eingeschaltetem Licht geschlafen haben, weil sie sonst | |
wegen der Bettwanzen nicht einschlafen hätten können, die vier Mal | |
hintereinander keinen Urlaub an Feiertagen bekommen haben und die immer | |
wieder keinen Lohn erhalten – sich „unter dem Vorwand der schlechten | |
Arbeitsbedingungen“ versammelt hätten, um gegen ihre Arbeitgeber zu | |
protestieren. Den Arbeitern wird unter anderem „Beschädigung öffentlichen | |
Eigentums“ und „Anstiftung der Arbeiter zur Niederlegung ihrer Arbeit“ | |
vorgeworfen. | |
Wenn die angeklagten Arbeiter auf diese Vorwürfe reagieren, dann hören sie | |
sich an wie Arbeitskämpfer aus längst vergangenen Zeiten: „Wir sind keine | |
Sklaven“, wird etwa ins Gerichtsprotokoll aufgenommen. Wie aus einer | |
anderen Zeit wirkt auch, dass die Anwälte der Arbeiter beim Verhör ihrer | |
Mandanten nicht dabei sein durften. Oder dass Aussagen der Arbeiter | |
offenbar unter Zwang der Gendarmerie aufgenommen worden sind. Und der | |
Vorwurf, den die Arbeiter immer wieder zu hören bekommen: „Volksverräter“ | |
seien sie, weil sie die Fertigstellung des neuen Flughafens sabotierten. | |
Die Arbeiter berichten, dass es auf der Flughafenbaustelle seit 2013 immer | |
wieder zu Protesten gekommen sei. Die Wut der Menschen habe sich aber | |
langsam angestaut. Im September 2018, als Tausende von ihnen die Arbeit | |
niederlegten, hat diese Wut ihren Höhepunkt erreicht und musste sich | |
entladen. Die Geschäftsführung lehnte die Forderungen der Arbeiter ab. Sie | |
sah es bereits als großes Wohlwollen ihrerseits an, dass sie sich nach den | |
Protesten überhaupt mit Arbeitervertretern zusammengesetzt hat. Kadri | |
Samsunlu, der CEO des Flughafenbetreibers İGA, sei bei diesem Treffen | |
aufgetreten, als sei er unantastbar. | |
Laut Gewerkschafter Tezcan Acu haben sich die Arbeitsbedingungen in der | |
Zwischenzeit kein bisschen verbessert. Sie seien zum Zeitpunkt der | |
Verhandlung im Dezember sogar noch schlimmer geworden, weil der | |
Eröffnungstermin immer näher rücke. Die zwölfstündige Verhandlung endet | |
schließlich damit, dass 30 der inhaftierten Arbeiter freigelassen werden. | |
Die Menschen im Gerichtssaal fallen einander vor Erleichterung in die Arme. | |
Laut richterlicher Anordnung müssen sich alle angeklagten 60 Arbeiter | |
jedoch regelmäßig bei der Polizei melden und dürfen nicht ausreisen. Die | |
Verhandlung wird auf März vertagt. | |
## Nichts als eine Theaterkulisse | |
20. März 2019: Vier Monate später betreten Gewerkschafter Tezcan Acu und | |
die angeklagten Arbeiter das Gerichtsgebäude in Gaziosmanpaşa. Acu erzählt | |
von der aktuellen Situation auf der Flughafenbaustelle: „Es gab einen | |
Unfall mit einem Tanklaster, dabei sollen zwei Personen getötet worden | |
sein.“ Auf der Baustelle seien neue Schlafplätze eingerichtet worden. Das | |
sei aber nichts weiter als eine Theaterkulisse. Es gehe darum, Besucher der | |
Baustelle zu täuschen. Viele Arbeiter seien unrechtmäßig gekündigt worden. | |
Nachdem ein erster Teil des Flughafens schon im Oktober geöffnet hat, sei | |
die Zahl der Arbeiter nun auf 10.000 zurückgegangen. In Höchstzeiten | |
arbeiteten hier über 30.000 Menschen. | |
Die Arbeiter wurden freigelassen, doch mit Freiheit hat das, was sie | |
erzählen, nicht viel zu tun. Wegen der gerichtlich angeordneten | |
Meldepflicht müssen sie einmal, manche sogar dreimal in der Woche im | |
Polizeirevier erscheinen. Die Bauarbeiter, deren Arbeitgeber ihnen | |
7-Tage-Wochen abverlangen, verlieren also entweder ihren Job, oder sie | |
kriegen noch mehr Ärger mit der Justiz. Für die Dauer des Prozesses dürfen | |
sie zudem nicht aus der Türkei ausreisen. Manch einer konnte deshalb seine | |
Arbeitsstelle, die er in Russland, Katar oder Marokko gefunden hatte, nicht | |
antreten. „Erst haben sie uns festgenommen, jetzt versuchen sie uns mit | |
Arbeitslosigkeit zu bestrafen“, sagt Baran Kırgın. Da er keine Arbeit auf | |
dem Bau findet, versucht er sich mit Halbtagsschichten in Cafés über Wasser | |
zu halten. | |
Am Ende vertagt der Richter den Prozess ein weiteres Mal. Aber er hebt die | |
Meldepflicht auf. Die Angeklagten freuen sich darüber, als ob sie | |
freigesprochen worden wären. | |
Aus dem Türkischen von Judith Braselmann-Aslantaş | |
6 Apr 2019 | |
## AUTOREN | |
Pınar Öğünç | |
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