# taz.de -- heute in hamburg: „Wir dachten, Demokratie sei scheiße“ | |
Interview David Günther | |
taz: Herr Heer, was konnten Sie aus der 68er-Bewegung lernen? | |
Hannes Heer: Ich habe mich zwischen 1963 und 68 aus einer total | |
katholischen Welt befreit. Die Demokratie der BRD war seit ihrer Gründung | |
1949 ein autoritäres formal-demokratisches System. Der Holocaust und der | |
Vernichtungskrieg im Osten wurden verleugnet, und ein Großteil der | |
Nazi-Eliten kam wieder in Amt und Würden. Ich habe damals gelernt, dass das | |
Bestehende nicht vernünftig ist und nur Kritik einem hilft, autonom zu | |
werden. Das ist die Leitlinie meines Leben geworden. | |
Was kann die Gesellschaft heute von den 68ern lernen? | |
Wir müssen das Bestehende als Ausgeburt des Kapitalismus begreifen und dass | |
der Staat als dessen Diener fungiert. Dann erst können wir darüber | |
nachdenken, was wir ändern wollen und können. Das kritische Individuum ist | |
machtlos, Rettung kommt nur, wenn man sich mit Gleichdenkenden verbindet. | |
Die Klima-proteste der SchülerInnen demonstrieren das. | |
Können die Klimaproteste wie die 68er wirken? | |
Nein. Das sind isolierte Proteste, die wichtig sind, aber aus denen keine | |
Bewegung mit festen Strukturen wird. Es ist aber eine Bestätigung, dass man | |
nicht schweigen muss, sondern laut werden kann. Und es bilden sich Menschen | |
heraus, die aus den Aktionen Selbstbewusstsein entwickeln und die | |
desaströse Klimapolitik vielleicht als systembedingt erkennen können. Nur | |
aus vielen solchen Strömen kann eine Woge wie die von 68 entstehen. | |
Wie groß ist die Gefahr, dass rechte Parteien die gesellschaftlichen | |
Errungenschaften von 68 zurückschrauben? | |
Die Erfolge, die wir erreicht haben, sind nicht unveränderbar. Der | |
Nazi-Untergrund ist nach oben gekommen und hat seinen legalen Arm im | |
Parlament bekommen. Das ist eine Niederlage. | |
Was meint Dutschke mit dem Satz „Ohne radikale Selbstkritik gibt es keine | |
radikale Kritik der Verhältnisse“? | |
Ein Mensch ist immer von der Gesellschaft, in der er aufwächst, geprägt. | |
Man muss wissen wer man ist, bevor man von sich und anderen etwas fordert. | |
Ohne die Selbstkritik wird jede Bewegung scheitern, denn Menschen | |
orientieren sich an Vorbildern und die überzeugen nur, wenn sie glaubwürdig | |
sind. | |
Was ist Ihre Selbstkritik? | |
Es hat auch bei mir lange gedauert, bis ich wusste, welche Nazi-Erbschaften | |
ich mitbekommen habe oder bis ich den Wert der Demokratie verstanden habe | |
–nicht als endgültige Form, aber als eine Form von absoluter Gedanken- und | |
begrenzter Handlungsfreiheit. Wir haben früher gedacht, dass die Demokratie | |
grundsätzlich scheiße ist. | |
28 Mar 2019 | |
## AUTOREN | |
David Günther | |
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