# taz.de -- Aufbruch ins Neuland Politik | |
> Seit Jahren forscht Claudia von Gélieu zur Geschichte von Berliner | |
> Frauen, die vergessen wurden. Wie Gertrud Scholz, die sie in einem | |
> Vortrag als „Eine Neuköllnerin in der Revolution 1918/19“ vorstellte | |
Von Inga Barthels | |
Was heißt es eigentlich, politisch zu sein? Und wer darf und durfte es | |
sein? Erst mit der Verabschiedung des Reichsvereinsgesetzes 1908 war es | |
Frauen im Deutschen Kaiserreich erlaubt, politischen Vereinen oder Parteien | |
beizutreten. Das Verbot hatte zuvor dazu geführt, dass Frauen so tun | |
mussten, als wären sie politisch nicht interessiert. Statt auf großer | |
politischer Bühne engagierten sie sich in ihren Gemeinschaften. Noch heute | |
sind Frauen in der Politik oft für Soziales und Familie zuständig, während | |
die „harten“ Themen wie Wirtschaft meist in Männerhand bleiben. | |
Geschichte hat also lang anhaltende Auswirkungen auf die Gegenwart – und es | |
lohnt sich, auch die kleinen Geschichten genauer zu betrachten. Das macht | |
die Politikwissenschaftlerin Claudia von Gélieu. Seit Jahren forscht sie zu | |
Berliner Frauengeschichte und bietet Frauentouren durch die Stadt an. In | |
der Neuköllner Helene-Nathan-Bibliothek hielt sie am Mittwoch einen Vortrag | |
über Gertrud Scholz, die während der Revolution 1918/19 als einzige Frau im | |
Neuköllner Arbeiter- und Soldatenrat saß. Der vom Museum Neukölln | |
organisierte Vortrag war der Auftakt zum „Neuköllner Frauenmärz“, der mit | |
zahlreichen Veranstaltungen den Frauentag 8. März feiern wird. | |
„Revolutionen finden nicht an einem Tag statt“, sagt Gélieu zu Beginn. So | |
begannen auch die politischen Kämpfe im Kaiserreich lange vor dem 9. | |
November 1918. Frauen aus der Arbeiter*innenschicht waren besonders im | |
ersten Weltkrieg politisch aktiv, hauptsächlich in Form von | |
Lebensmittelunruhen und Streiks. Gélieu liest aus einer Neuköllner Zeitung | |
von 1915 vor, in der eine „erregte Szene“ in einem Lebensmittelgeschäft | |
geschildert wird, wo mehrere Frauen in einem „Lynchakt“ auf eine | |
Verkäuferin losgingen. Während der Revolution selbst spielten Frauen | |
hingegen kaum mehr eine Rolle. | |
Eine Ausnahme war Gertrud Scholz. Gélieu liest aus ihren Memoiren, die | |
Scholz 1956 auf Drängen ihrer Kinder veröffentlichte und setzt sie in | |
Vergleich mit den unveröffentlichten Aufzeichnungen von Friedel Gräf, die | |
1918/19 Protokollführerin im Arbeiter- und Soldatenrat Neuköllns war. | |
Die 1881 geborene Gertrud Scholz war schon früh im Frauenverein | |
organisiert, dessen Versammlungen wegen des Politikverbots für Frauen | |
polizeilich überwacht wurden. 1908 trat sie in die sozialdemokratische | |
Partei ein, warb Mitglieder und gab Politikkurse für Frauen. | |
„Für Frauen war Politik damals noch Neuland“, erklärt Gélieu. Während d… | |
Kriegs war Scholz in Volksküchen aktiv und verhandelte, teilweise gemeinsam | |
mit den bürgerlichen Frauen, mit dem Bürgermeister um Lebensmittel. 1917 | |
übernahm sie die Oberleitung des Lebens- und Futtermittellagers und war | |
damit für die Verteilung der Lebensmittel in der gesamten Stadt Neukölln | |
zuständig. | |
Ein wichtiger Posten, den sie 1919 im Rahmen der Demobilmachungsverordnung | |
räumen musste, die verheirateten Frauen vorschrieb, den rückkehrenden | |
Soldaten Platz zu machen. Von ihrer Zeit im Arbeiter- und Soldatenrat | |
berichtet Scholz nicht viel, sagt Gélieu. Nur, dass die Zeit mit sinnlosen | |
Debatten verschwendet wurde und ein „gedeihliches Arbeiten“ daher nicht | |
möglich sei. So legte Scholz ihr Amt bald wieder nieder. 1920 wurde sie | |
Verordnete der Stadt Neukölln. Diesen Posten musste sie aufgegeben, da | |
ihrem erster Mann Alfred Scholz, damals Bürgermeister von Neukölln, nach | |
der Scheidung eine Zusammenarbeit unangenehm war. 1927 zog Scholz nach | |
Wittenau, wo sie politisch für die SPD aktiv blieb. | |
Scholz’ und Gräfs Aufzeichnungen sind seltene zeitgeschichtliche Dokumente, | |
die zeigen, wie politisch Arbeiterinnen vor, während und nach der | |
Revolution waren – und wie unsichtbar sie in der Öffentlichkeit sind. | |
Während nach Alfred Scholz ein Platz in Neukölln benannt ist, erinnere | |
nichts an Gertrud Scholz, sagt Claudia von Gélieu. Das will sie ändern: | |
Eine der Neuköllner Stadtteilbibliotheken soll künftig den Namen der | |
Vorkämpferin tragen. | |
1 Mar 2019 | |
## AUTOREN | |
Inga Barthels | |
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