# taz.de -- „Die Kinder dürfen nicht verschwinden“ | |
> Samiah El Samadoni ist Bürgerbeauftragte für soziale Angelegenheiten des | |
> Landes Schleswig-Holstein. Für Kinder und Jugendliche in den Heimen müsse | |
> der Schulbesuch die Regel werden, fordert sie. Bei den meisten von ihnen | |
> sei dies möglich | |
Interview Kaija Kutter | |
taz: Frau El Samadoni, Sie leiten in Schleswig-Holstein die | |
Beschwerdestelle für Kinder und Jugendliche, die in Einrichtungen leben. | |
Was gibt es für ein Problem mit der Beschulung? | |
Samiah El Samadoni: In Schleswig-Holstein leben circa 3.000 Kinder und | |
Jugendliche, die zwar hier in Heimen leben, aber nicht der Schulpflicht | |
unterliegen, weil sie von Jugendämtern aus anderen Bundesländern | |
untergebracht wurden. Schleswig-Holstein steht damit relativ allein. Die | |
meisten anderen Bundesländer regeln das anders. Dort ist ein Kind dort | |
schulpflichtig, wenn es im Land seinen „gewöhnlichen Aufenthalt“ hat. | |
Wie wirkt sich diese rechtliche Lage denn aus? | |
Aus meiner Beratungspraxis sind mir konkrete Fälle bekannt, in denen Kinder | |
und Jugendliche zum Teil über Jahre hinweg Heim-intern unterrichtet wurden. | |
Ganz konkret in meinem ersten Tätigkeitsbericht erwähnt habe ich den Fall | |
eines 16-Jährigen Jungen aus Bayern, der drei Jahre lang in einer | |
„schulvorbereitenden Maßnahme“ war. Dies ist keine Maßnahme der Schule, | |
sondern der Kinder- und Jugendhilfe. Der Junge hatte letztlich keinerlei | |
Schulabschluss und auch keine Chance mehr, diesen noch zu erwerben, ihm | |
blieb dann lediglich die Perspektive auf eine Tätigkeit in einer | |
geschützten Werkstatt. | |
Es heißt, es gehe hier um Kinder, die nicht beschulbar sind. | |
In einigen Fällen ist es sicherlich so, dass Kinder, die zum Beispiel sehr | |
fremdaggressiv sind, zunächst keine Regelschule besuchen können. Der Junge | |
im genannten Beispielfall wäre durchaus beschulbar gewesen. Er hatte eine | |
Störung im Autismus-Spektrum, aber er hätte aus meiner Sicht mit einer | |
Schulbegleitung zur Schule gehen und einen Abschluss machen können. Das | |
gilt auch für andere Kinder und Jugendliche mit Förderbedarf im | |
sozial-emotionalen Bereich, die sind beileibe nicht alle „auf den Kopf | |
gefallen“ oder stellen immer eine Gefahr für sich oder andere dar. | |
Was spricht gegen Heim-interne Beschulung? | |
Diese Heim-internen Beschulungsmaßnahmen unterliegen als Maßnahmen der | |
Kinder- und Jugendhilfe keiner richtigen Qualitätskontrolle durch das | |
Bildungsministerium. Zudem ist es für die Kinder wichtig, zur Schule zu | |
gehen, damit sie außerhalb der Einrichtung Kontakte knüpfen und Freunde | |
finden können, damit sie sichtbar werden und nicht einfach in einer | |
entlegenen Einrichtung „verschwinden“. Das ist eine der Erkenntnisse des | |
runden Tisches Heimerziehung und des parlamentarischen | |
Untersuchungsausschusses „Friesenhof“ in Kiel. Es mag immer mal Einzelfälle | |
geben von Kindern oder Jugendlichen, die nicht beschulbar sind. Aber dies | |
sollte bei Heimkindern nicht als Regelfall gelten. | |
Wie viele Kinder gehen nicht zur Schule? | |
Das ist nicht abschließend geklärt. Wir haben im Land etwa 6.500 | |
Heimplätze. Die Bildungsministerin hatte im Mai 2018 im Bildungsabschluss | |
vorgetragen, dass alle schulpflichtigen Kinder beschult würden. Sie | |
berichtete von insgesamt 3.373 Kindern und Jugendlichen, von denen elf | |
Prozent Heim-intern beschult würden und die übrigen zur Schule gingen. Dazu | |
kommen aber auch die Heimkinder, die aus einem anderen Bundesland kommen | |
und deshalb nicht schulpflichtig sind. Und Stand November 2017 gab es 2.934 | |
Kinder und Jugendliche, die ihren Hauptwohnsitz nicht in Schleswig-Holstein | |
hatten, also formell nicht schulpflichtig waren. Ich habe jetzt kürzlich | |
Gespräche mit den Ministerien für Bildung und für Soziales geführt. Es | |
sollen in diesem Jahr alle Träger von stationären Einrichtungen | |
angeschrieben werden, wie viele Kinder aus anderen Bundesländern bei ihnen | |
untergebracht sind und wie diese beschult werden. Wir brauchen dringend | |
eine klare Faktengrundlage, wir müssen in jedem einzelnen Fall prüfen | |
können, ob ein Kind richtig beschult wird. Und wir müssen | |
schulvorbereitende Maßnahmen in Heimen auch in Hinblick auf deren Qualität | |
und Geeignetheit überprüfen. | |
Das Thema beschäftigte ja nun wieder den Landtag. | |
Ja, der SSW hat vor einem Jahr die Schulpflicht für Heimkinder beantragt. | |
Das wurde leider abgelehnt mit den Stimmen von Jamaika. Und auch ein neuer | |
Antrag der SPD kam zu diesem Punkt nicht durch. Zumindest wird man aber | |
seitens der Landesregierung versuchen, Transparenz zu den genauen Zahlen | |
der betroffenen Kinder herzustellen. | |
Warum tut sich die Politik so schwer damit? | |
Das Bildungsministerin fürchtet zum Beispiel eine Überforderung der | |
kommunalen Strukturen, wenn alle Kinder plötzlich in den öffentlichen | |
Schulen beschult würden. Dies ist nachvollziehbar, aber ich halte dies für | |
lösbar. Es wurde aber keine Lösung vorgetragen, um diesen Bedenken zu | |
begegnen. Die Lösung kann meiner Meinung nach jedenfalls nicht heißen, dass | |
die Kinder nicht schulpflichtig sind. Ich halte dies für lösbar. | |
Es gibt ja seit November 2017 einen „Erlass“, der regelt, dass neue | |
Heimkinder unverzüglich den Schulaufsichtsbehörden gemeldet werden müssen | |
und auch alle ein Recht auf Schulbesuch haben. Warum reicht dies nicht? | |
Wie gesagt, es sind noch keine Zahlen da. Wir wissen nicht, wie viele | |
Heimkinder nicht zur Schule gehen. Es müssten erst mal alle Träger auf den | |
Erlass hingewiesen werden. Ich sehe die Gefahr, dass Kinder nicht zur | |
Schule geschickt werden, aus anderen Gründen. Böse gesagt könnte es auch | |
sein, dass ein Kind in die Heimbeschulung kommt, weil da gerade ein Platz | |
frei ist. Oder weil es zu mühsam ist, eine Schulbegleitung zu organisieren. | |
Es gibt auch Träger, die mit Heimbeschulung werben. Gibt es erst mal die | |
Schulpflicht für alle Kinder, wäre das Schulamt und nicht das Heim am Zug, | |
für die Beschulung zu sorgen. Sicher, es wird weiter Ausnahmen geben, aber | |
wir müssen das Regel-Ausnahmeverhältnis umkehren, davon bin ich überzeugt. | |
23 Feb 2019 | |
## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
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