# taz.de -- Der Prä-Postkolonialist | |
> Alexander von Humboldt war Weltreisender, Naturforscher und Kammerherr am | |
> preußischen Hof. Seine Beschreibung der Welt veränderte die Wissenschaft. | |
> Nun, 250 Jahre nach seiner Geburt, würde man ihn wohl als Ökologen und | |
> Globalisierungskritiker bezeichnen | |
Bild: Alexander von Humboldts Zeichnung des Vulkans Chimborazo in Ecuador enth�… | |
Von Cord Riechelmann | |
Die Chance, die die Feier des 250sten Geburtstags von Alexander von | |
Humboldt bietet, liegt in der Betonung eines anderen Datums, das | |
hierzulande bestimmt nicht gefeiert werden wird. Das prägendste Ereignis | |
für das politische Denken Humboldts wird sein Leben lang der Ausbruch der | |
Französischen Revolution 1789 sein, nur wenige Wochen vor Humboldts | |
zwanzigstem Geburtstag am 14. September. Humboldt bewahrte die „Ideen von | |
1789 im Herzen“, wie er später nicht nur einmal sagte. Die Revolution | |
begeisterte ihn so sehr, dass er 1790 zu ihrem ersten Jahrestag nach Paris | |
reiste und eigenhändig mithalf, Sand für den Bau der „Freiheitstempel“ | |
herbeizukarren, wie Andrea Wulf in ihrer zu Recht gefeierten | |
Humboldt-Biografie „Die Erfindung der Natur“ schreibt. | |
Man hat damit eine der Kraftlinien, an denen entlang sich Humboldt durch | |
die Welt ziehen wird, benannt. Wobei diese Kraftlinie von einer Bewegung | |
erst prästabilisiert und dann mitgetragen werden wird. Humboldt ging sein | |
ganzen Leben gern spazieren. Von den frühen Gängen durch die Wälder von | |
Tegel über die südamerikanischen Anden bis zu den Bergen und Ebenen | |
Russlands, die er als Sechzigjähriger 1829 auf seiner letzten großen Reise | |
durchwandert, wird er seine Begleiter durch seine Ausdauer beeindrucken. | |
Die Exkursionen zu Fuß hätten ihn die Poesie der Natur gelehrt, wie er | |
sagte. „Er fühlte die Natur, weil er sich durch sie hindurchbewegte“, wie | |
Andrea Wulf zusammenfasst. | |
Spazieren gehen, muss man hinzufügen, war für Humboldt ein ethischer Akt. | |
In der Bewegung vermochte er seine Fähigkeiten zusammenzuführen, ohne ihre | |
Unterschiede in falschen Synthesen zu verkochen. Das Fühlen der Natur hatte | |
für Humboldt nichts mit romantischem Glotzen und dem Fantasieren von blauen | |
Blumen zu tun. Es war für ihn zuerst die Knochenarbeit der Benennung, die | |
er 1793 mit Studien zu unterirdisch in Höhlen wachsenden Pflanzen beginnt. | |
Dabei entdeckt er so viele vorher unbeschriebene Pflanzen, dass er sich | |
schnell in Fachkreisen einen Namen macht und auch Goethe seine | |
Bekanntschaft sucht. | |
Humboldt muss aber selber schnell gemerkt haben, dass er neben seiner | |
Begabung für die Konzentration auf das Kleinste, die Blütenorgane von | |
Pflanzen etwa, auch eine außergewöhnliche Fähigkeit zum Perspektivwechsel | |
hatte. Das Kleinste versperrte ihm nicht die Sicht auf das Größere, auf die | |
Struktur und Verschiedenheiten von Landschaften – oder allgemeiner: auf die | |
geografischen Großräume und ihre Wirkungen auch auf die Kultur. Die | |
Fähigkeit, vom Kleinsten zum Großen zu wechseln, ohne dabei den | |
Kategoriensprung zu übersehen, wird ihn in der Rückschau mit zwei anderen | |
großen Empirikern und Theoretikern der Natur, nämlich mit Aristoteles und | |
Charles Darwin, auf eine Ebene setzen. | |
## Bis heute nicht überholt | |
Nur dass Humboldt in einem bestimmten Punkt viel weiter, um nicht zu sagen: | |
aktueller vorgreift als die beiden anderen großen Denker der Naturvielfalt. | |
Humboldt wird eine neue Form der Raumbeschreibung einführen, die bis heute | |
nicht überholt ist. Eine Raumbeschreibung, die sich bei Humboldt | |
naturwissenschaftlich gab, aber wesentlich mehr war, nicht zuletzt auch | |
eine Form der Literatur, die sich der Montage bediente. | |
Humboldt entwickelt seine neue Form der Raumbetrachtung aber nicht in | |
seinen bekannteren Erzählungen rund um seine Amerikareise, sondern in einem | |
vergleichsweise entlegenen Werk, in „Zentral-Asien“, dem Reisewerk zu | |
seiner Expedition von 1829. „Zentral-Asien“, das 1843 in französischer | |
Sprache erschien und 1844 ins Deutsche übersetzt wurde, liegt dank der | |
Arbeit des Berliner Literaturwissenschaftlers Oliver Lubrich seit 2009 in | |
einer wunderbar material- und kommentarreichen Ausgabe vor. | |
Das über 900 Seiten dicke Buch ergibt zusammengenommen ein Ensemble der | |
Raumbeschreibung, das private und öffentliche Räume so miteinander | |
verbindet, wie es den Raum der Kultur mit dem der Natur konfrontiert. | |
Humboldts Werk erschafft eine Kombinatorik, durch die ein Land, ein | |
Großraum, der zu wesentlichen Teilen damals Neuland war, vermessen und | |
kartografiert wird. Es bedient sich dabei der verschiedensten Techniken und | |
– was wohl wichtiger ist – der unterschiedlichsten Autoren. Man könnte es | |
von heute aus als ein Werk des Prä-Postkolonialismus lesen oder auch einer | |
neuen Ökologie zurechnen, wie sie gerade Anna Loewenhaupt Tsing mit ihrem | |
Buch „Der Pilz am Ende der Welt“ entworfen hat. | |
Neben indigenen Reiseroutenbeschreibungen kommt der Reisebericht eines | |
Kirgisenhäuptlings genauso vor wie der persische Gelehrte Kazim-beg und die | |
mongolisch-tartarische Geschichte des Khans Abulghazi. Der französische | |
Biologe Achille Valenciennes äußert sich zu den Seehunden am Kaspischen | |
Meer und einem Polypen im Toten Meer. Sein Pariser Kollege Georges Cuvier | |
steuert einen historischen Bericht bei, und Herodot wird andauernd beratend | |
hinzuzitiert. Das sind aber nur Bruchstücke der vielen Stimmen, die | |
Humboldt hier versammelt, ohne sie stilistisch zu verschmelzen. Jeder | |
behält seinen Ton, zusammengeführt werden sie alle über den Gegenstand | |
Zentralasien, der dem Buch äußerlich bleibt. Humboldt tut auf keiner Seite | |
so, als könne er sich diese Landmassen schreibend einverleiben und dadurch | |
beherrschen. | |
Das führt nicht nur zu einem heterogenen, um nicht zu sagen: hybriden Bild | |
Zentralasiens, es führt in der Folge des Kulturenvergleichs zu einem | |
Verlust der Mitte. Römer und Griechen verlieren ihr klassizistisches Maß | |
als Ideal für Wissenschaft und Geschichte. Anschaulich wird das, wenn | |
Humboldt die Vorstellungen über die Aralo-Kaspische Niederung referiert. | |
„Während die arabischen Schriftsteller, Araber und Türken ebenso wie | |
Armenier, eine topographische Kenntnis von diesem Becken zeigen, welche | |
derjenigen weit überlegen ist, die Europa noch zu Anfang des vorigen | |
Jahrhunderts besaß, hielten die Geographen des Abendlandes lange Zeit an | |
der alexandrinischen Hypothese von einem Zusammenhang des kaspischen Meeres | |
mit dem nördlichen Ozean fest“, schreibt er. | |
Es war die lebhafte Vorliebe für klassische Literatur, die die Europäer in | |
die Irre geführt hatte. Während man hier weiterhin den Argonauten folgte, | |
die über die Kaspische Senke in den Ozean gelangt sein sollten, hatten die | |
Mongolen während der Kriege Dschingis Khans die Gegend im ganzen Umfang | |
erforscht. | |
Wenn es um die Geografie Zentralasiens geht, sind die Chinesen und Mongolen | |
den Griechen und Römern überlegen. Man kann Humboldts stete Betonung der | |
Kenntnisse der Einheimischen als Umkehrung seines Auftrags lesen, der | |
entschieden imperial intendiert war und im Dienste der Kolonisierung | |
Sibiriens stand. Europa befand sich 1829 tief in der Restauration, und der | |
russische Zar Nikolaus I. war einer der tatkräftigsten Reaktionäre Europas. | |
1825 hatte er den Dekabristenaufstand gewalttätig niedergeschlagen und | |
viele der führenden Reformer nach Sibirien verbannt. Genau dahin sollte | |
Humboldt reisen, im Auftrag des Zaren und von ihm finanziert. | |
## Politische Metaphern | |
Und Humboldt gibt gleich auf der ersten Seite der Einleitung seines | |
Reiseberichts, den er für den Zaren verfasst, einen verdeckten Hinweis auf | |
die Problemlage. Dort heißt es: „Es gibt in der Erhebung der Massen, in | |
der Ausdehnung und Ausrichtung der Gebirgssysteme und in ihren Stellungen | |
zueinander herrschende Grundzüge, die seit dem frühesten Altertum den | |
Zustand der menschlichen Gesellschaften beeinflusst, die Tendenzen ihrer | |
Wanderungen bestimmt und die Fortschritte der geistigen Kultur begünstigt | |
oder verzögert haben.“ Die Geologie Humboldts arbeitet hier mit politischen | |
Metaphern. Die Erhebung der Massen, im französischen Original „soulevement | |
des masses“, bezieht sich vordergründig auf Gebirge, die aber mit dem | |
Zustand der menschlichen Gesellschaften in Beziehung gesetzt werden. | |
Dadurch bekommt die Formulierung auch die andere, die politische Bedeutung. | |
Es geht hier aber nicht darum, Humboldt von seiner Zustimmung zu den | |
Bedingungen des Zaren reinzuwaschen. Die Verhältnisse sind klar. Humboldt | |
hat nach seiner großen Amerikareise (1799–1804), die er selbst organisierte | |
und finanzierte, sein ererbtes Vermögen „vernichtet“, wie er dem russischen | |
Finanzminister schrieb, und war auf die Mittel anderer angewiesen. Eine | |
zweite große Reise, die ihn nach Asien führen sollte, um die dortigen | |
Gebirgszüge mit denen Südamerikas vergleichen zu können, konnte er nicht | |
mehr selbst bezahlen. Da kam das Angebot des Zaren, den Ural und die Weiten | |
Sibiriens mit den angrenzenden chinesischen Provinzen zu bereisen, im | |
rechten Moment. Welche Probleme das mit sich bringen würde, wird Humboldt | |
von Anfang an gesehen haben. | |
Die Untersuchungen zu den Gebirgsketten und zur vergleichenden Klimatologie | |
Zentralasiens bekommen so einen dauernd präsenten Bezug zur Macht. | |
Wissen, das ist in „Zentral-Asien“ auf jeder Seite gegenwärtig, wird auch | |
über militärische Eroberungen befördert. So wie Marx in seinen | |
Betrachtungen über Indien die Gewaltexzesse der Engländer gegen die | |
Einheimischen im Dienst des Fortschritts sieht, sieht auch Humboldt den | |
geplanten Feldzug des Zaren gegen den Khan von Khiwa: Die Erforschung | |
dieser einstmals so blühenden Gegenden könne daraus nur „Gewinn ziehen“. | |
Im Zeichen des Fortschritts im Zuge des Kolonialismus steht auch ein | |
anderer Dialog, den Humboldt führt. Es ist das Gespräch mit Charles Darwin. | |
Darwin, der, als Humboldt „Zentral-Asien“ schreibt, sein Hauptwerk „Über | |
die Entstehung der Arten“ noch nicht veröffentlicht hat, wird bei Humboldt | |
als Autor seiner großen Reisebeschreibung „Die Fahrt der Beagle“ zur | |
Referenz. Die Frage, der Humboldt mit Darwin dabei nachgeht, ist, welche | |
Folgen die Veränderung der Umgebung, etwa die Erhebung einer ganz neuen | |
Gebirgskette, für das Klima und damit die Lebewesen mit sich bringt. | |
Jedes Ding, jede Sache existiert immer in einem Raum möglicher | |
Sachverhalte, zu denen auch die Zeit zählt. Aber ohne Raum existiert | |
nichts. Und an dieser Stelle kommt es zu einer der großen Wechselwirkungen | |
in der Wissenschaftsgeschichte überhaupt. Darwins Wertschätzung Humboldts | |
ist dabei für seine Theorie fundamental. Sie spricht aus vielen Passagen | |
von Darwins Werk, etwa wenn er empfiehlt: „Studiere Spanisch, Französisch, | |
Zeichnen und Humboldt.“ | |
Entscheidend für die Evolutionstheorie war aber eine Beobachtung, die | |
Darwin nie direkt in Bezug zu seinen Beobachtungen setzte. Humboldt hatte | |
auf seiner Reise nach Amerika auf den Kanarischen Inseln auch Kanarienvögel | |
beobachtet. Die sahen zwar alle ziemlich gleich aus, doch ihr Gesang | |
unterschied sich von Insel zu Insel. „In allen Himmelrichtungen hat jeder | |
Schwarm derselben Vogelart seine eigene Sprache“, schrieb er 1805 in seinem | |
Reisebericht. Diese Beobachtung sei mit der, die Darwin auf den | |
Galapagosinseln an den Finken machte, „so sehr strukturidentisch, dass | |
man sagen kann, auch Humboldt hatte seine Galapagos-Erfahrung“, schrieb | |
hierzu der Wissenschaftshistoriker Wolfgang Lefèvre in seiner Studie „Die | |
Entstehung der biologischen Evolutionstheorie“. | |
Eine Einschätzung, die man nach der Lektüre von „Zentral-Asien“ auch | |
umkehren kann: Darwin hatte offensichtlich mehrmals seine | |
Humboldt-Erfahrung. Denn was Humboldt zum Artensterben und über die | |
Anpassung von Tieren und Pflanzen durch Akklimatisierung 1843 anmerkte, hat | |
Darwin alles erst sehr viel später geschrieben. | |
Der Raum, den Humboldt in Zentralasien schreibend durchmessen hat, öffnet | |
sich so in buchstäblich alle Richtungen. Die Berge Südamerikas sind hier | |
genauso anwesend wie der Dalai Lama und sein Konflikt mit China. Die | |
Platingewinnung im Bergbau im Ural wird in direkten Zusammenhang mit der | |
Abholzung der Wälder im Ural gebracht. Die weitflächigen Abholzungen kannte | |
Humboldt aus den südamerikanischen Tropen. Gutheißen konnte er sie nicht, | |
als Klimatologe wusste er um ihre Auswirkungen auf Wetter und Wind. | |
An den Ufern des Aralsees bemerkte er ein allmähliches Austrocknen, dessen | |
Ursache er in den Bewässerungskanälen sah, die den See aussaugten. Das | |
alles zusammen führte für Humboldt zu „ziemlich bedeutenden Veränderungen | |
in der Beschaffenheit der Erdhülle (der Atmosphäre)“. Diese Veränderungen, | |
so fügte er hinzu, seien ohne Zweifel wichtiger, als man gemeinhin annehme. | |
Wenn Humboldts Reisegesellschaft nicht zu Pferde unterwegs gewesen wäre, | |
könnte man annehmen, er sei gerade erst zurückgekommen aus den | |
Erdgasfördergebieten Eurasiens, an denen ja immer noch ein nicht | |
unwesentlicher Teil der Existenz Mitteleuropas hängt. Humboldts Aktualität, | |
so kann man schließen, lässt sich mit dem Versuch, sich einen Winter ohne | |
russisches Erdgas vorzustellen, besser erfahren, als es der Besuch eines | |
nach ihm benannten Forums je könnte. | |
5 Jan 2019 | |
## AUTOREN | |
Cord Riechelmann | |
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