# taz.de -- Rigloffs Spur | |
> Nach der Zeit der vielen Karpfen: eine etwas andere Weihnachtsgeschichte | |
Von Henning Bleyl | |
Knapp. Verdammt knapp war das gewesen. Rigloffs halblauter Fluch hängt in | |
der Luft. Lästig waren sie, diese Blutlachen auf dem Steindamm. Und fast | |
wäre er gerade in eine hineingetreten. Rigloff denkt kurz darüber nach, | |
wann er zuletzt beim Blutspenden gewesen war. Vor einem Monat? Vor vier? In | |
diesem kleinen Laden mit dem Vampir auf dem Türschild. Rigloff kann sich | |
nicht erinnern. Er kann sich in letzter Zeit ohnehin nur an wenig erinnern. | |
Nur an die Spur. Dass er der Spur folgen muss, das weiß er. Das ist | |
wichtig. Lebenswichtig. Warum noch mal? | |
Ein paar Straßen weiter, in der Koppel, sieht es anders aus. Keine Lachen. | |
Dafür lachende Kinder. Vor der Koppel 66 steht das Schild mit dem | |
vegetarischen Frühstück. Das hat Rigloff schon immer gestört. Das weiß er | |
noch. Das weiß er. Weil „vegetarisches Frühstück“ scheiße klingt. Schon… | |
Wort, irgendwie ausgemergelt. Ausgemergelt wie die hageren Gestalten, die | |
da drin jetzt hohläugig auf ihren isländischen Magerquark starren. Und auf | |
das Biograubrot daneben. Als ob sie zu oft beim Vampir gewesen wären. | |
Über Rigloffs verformtes Gesicht huscht ein eigenartiges Lächeln. Pastös | |
hat es ausgesehen, das Blut auf dem Gehweg. Fast klumpig, ein kleines | |
Bodenrelief. Rigloff merkt plötzlich, wie hungrig er ist. Seit der | |
vorletzten Nacht, als die Spur auf einmal so deutlich vor ihm zu liegen | |
schien, hat er nichts gegessen. Nicht, weil er es vergessen hätte. Aber das | |
Licht im linken Auge hatte zu stark geflimmert. Jetzt flimmert es nicht | |
mehr. Nur noch flau fühlte sich alles an. Flau. Flau. | |
Die Klinke in der Hand ist kalt. Rigloff fröstelt. Er braucht jetzt einen | |
Kaffee. Sogar, falls Sojamilch drin sein sollte. Rigloff zwängt sich am | |
Treppenhaus vorbei, um zum Café zu gelangen. Es steht im Weg, das hat er | |
schon immer gewusst. Freitragendes Treppenhaus, Fritz Schumacher. Warum | |
fällt ihm das jetzt ein? Schuhe. Spur. Das flaue Gefühl. | |
Im Café sitzt die übliche Mischung aus Touristen und Touristen. Seit die | |
Koppel 66 in den Reiseführern steht, kommen die Anwohner seltener. Rigloff | |
ist das recht. Oder sehen die Anwohner von heute so aus wie die Touristen | |
von gestern? Zu kompliziert. Rigloff weiß nur, dass er niemanden treffen | |
will. Er muss warm werden. Er muss endlich wieder etwas spüren. Spüren. | |
„Suchen Sie einen freien Platz?“ | |
Der Mann lächelt ihn von unten her an. Rigloff starrt hinunter. Dann setzt | |
er sich, wortlos. Die Karte liegt aufgeschlagen auf dem Tisch. „Veganes | |
Frühstück“ steht oben drüber. Was ist jetzt wieder los? Vegan. Das klingt | |
ja … irgendwie besser als das andere. Egal. Weil der Mann schon wieder | |
lächelt. | |
Er ist so alt wie Rigloff. Also jung. Aber alt aussehend. Und: Er hat keine | |
Schuhe an. Er hat keine Schuhe an, er lächelt, er spreizt den kleinen Zeh | |
ab. Immer wieder. Unablässig. Linker Fuß, kleiner Zeh. Rigloff spürt | |
plötzlich wieder das Flimmern im Auge. Linkes Auge, leichtes Flimmern. Darf | |
er essen? Oder würde sein Blut davon zu dick werden? | |
Auf dem Balkon jenseits des kleinen Hofgartens bewegt sich etwas. Eine Frau | |
ist das. Eine Frau? Ja. Rigloff kneift die Augen zusammen und erkennt nun, | |
dass sie etwas Kleines, Dünnes zwischen den Fingern hält. Ihr kleiner | |
Finger sieht seltsam abgespreizt aus, als ob … als ob er irgendwohin | |
deutet. Jetzt bewegt sich die Hand langsam auf den Mund der Frau zu. Bleibt | |
dort. Dann wird sie mit einem kleinen Ruck zurückgezogen. So wiederholt | |
sich das, alle 20 bis 25 Sekunden. Rigloff zählt genau mit. Und er schaut | |
genau. Denn der kleine Finger zeigt noch immer. Zeigt zu ihm. Fast zu ihm. | |
Knapp neben ihn. | |
Rigloff Kopf ruckt zurück. Der Mann ist weg. Sein Fuß ist weg. Dafür liegt | |
eine Zeitung auf dem Tisch. Rigloff liest die Überschrift: „Karpfenessen“. | |
Und darunter: „In Reinfeld (Holst.) findet am 13. bis 14. Oktober das | |
traditionelle Karpfenfest statt, zu dem die Stadt einlädt und die | |
Bundesbahn einen Sonderzug mit Preisvergünstigung stellt.“ Das war die Zeit | |
vor den vielen Autos, denkt Rigloff. Das war die Zeit der vielen Karpfen. | |
Rigloff kennt die Karpfen. 12 Stück von ihnen kannte er besonders genau. | |
Jedes Jahr hatte er einen bei seinen Großeltern gesehen, gebacken, mit | |
blassen Augen, die zum Weihnachtsbaum starrten. Der kleine Rigloff guckte | |
zum Karpfen, der Karpfen guckte zum Baum, die Großmutter guckte zu Rigloff. | |
Bis er seine Portion aufgegessen hatte. Ganz aufgegessen. Die Großmutter | |
stammte aus Schlesien, sie hatte als Kind auch Karpfen essen müssen. Keine | |
Weihnachtsgeschenke ohne Karpfen. Also aß Rigloff. Jeder Bissen russisches | |
Roulette. Überall Gräten. Wenn sie bis in den Hals kommen würden, wäre | |
alles umsonst gewesen. Nie wieder Weihnachtsgeschenke. Höchstens noch | |
Grabbeilagen. Rigloffs Mund geht wieder in Schieflage. Was ist das bloß für | |
eine Zeitung, die Karpfenmeldungen druckt? | |
Rigloff weiß auf einmal, dass er nicht mehr auf seinen Sojamilchkaffee | |
warten darf. Sondern losmuss. Nach dem zwölften Karpfen waren die | |
Großeltern beide tot gewesen, das waren zusammen 14 Tote. Und Rigloff hatte | |
Weihnachten wieder bei seinem Vater verbringen müssen. Bis der auch tot | |
war. Sein Name steht jetzt auf einem dieser Steine vor der | |
Dreieinigungskirche. Ein schöner Ort ist das, denkt Rigloff. Eine Blume hat | |
Rigloff noch nie in die Fugen gesteckt. Auch keine Gräte. Aber er weiß | |
jetzt, dass er noch mal zum Steindamm zurückmuss. Zum Steindamm. | |
Aber aufpassen. Nicht ausrutschen. Nichts essen. Spüren. Spüren. | |
21 Dec 2018 | |
## AUTOREN | |
Henning Bleyl | |
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