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# taz.de -- Der Namesagte mir nichts
> Und trotzdem machte sich unser Autor auf die lange Fahrt für ein Glas
> Knieperkohl. Er ist sich sicher: Knieperkohl blüht dasselbe Schicksal wie
> vielen anderen „Armeleuteessen“
Bild: Von Kuhbier bis ins Kümmernitztal kennt man Knieper
Von Philipp Maußhardt (Text) und Karoline E. Löffler (Illustration)
Letzte Woche war ich im Erzgebirge. In Aue saß ich in einem Café, das von
Menschen mit Behinderung betrieben wird. Ich kann mich nicht erinnern,
jemals so freundlich im Osten bedient worden zu sein. Der junge Kellner
hörte an meinem süddeutschen Dialekt, dass ich offenbar nicht aus dem
Erzgebirge stamme. „Sie sprechen sehr gut Deutsch“, sagte er mir als
Kompliment, als er den Cappuccino brachte, und wollte dann wissen, woher
meine Begleiterin stammt. „Aus Berlin“, sagte sie. Er nickte und sagte:
„Berlin, der Name sagt mir was.“
Ich habe noch nie eine bessere Beschreibung von Berlin gehört als diese.
Der Name sagt auch mir etwas. Er sagt fast jedem was. Aber was genau, das
ist eben bei jedem anders. Mir zum Beispiel sagt der Name Berlin, dass man
diese Stadt höchstens drei Tage lang aushält. Dann muss ich sie verlassen,
es ist mir einfach zu voll.
Zum Glück liegen zwischen Berlin und dem menschenleersten Landkreis
Deutschlands nur zwei Autostunden. Der gesamte Landkreis der Prignitz im
äußersten Westen Brandenburgs hat weniger als halb so viele Einwohner wie
Berlin-Prenzlauer Berg, ist aber 193-mal größer. Prignitz – der Name sagt
zum Glück fast niemandem was.
Ein Begriff, der auch kaum jemandem etwas sagt, ist Knieperkohl. Kniepen,
so sagt man im Plattdeutschen, wenn etwas zwickt, klemmt oder kneift. Auf
Helgoland heißen auch die Scheren des Taschenkrebses Knieper. Auf meiner
Suche nach irgendetwas Essbarem, das man nur in der Prignitz findet, hörte
ich zum ersten Mal vom Knieperkohl. Der sei, sagte mein Nachbar Paul, eine
Mischung aus Sauerkraut und Grünkohl. Den gebe es nur hier.
In den darauf folgenden einsamen Nächten der Prignitz las ich im Netz alles
über den Knieper. Dass man zu seiner Herstellung drei Kohlsorten (Weißkohl,
Grünkohl, Markstammkohl), Weinreben und einen Kirschbaum benötigt. Dass er
so heißt, weil es im Magen hinterher ein wenig zwickt. Dass jede Familie
ihr eigenes Rezept besitzt. Und dass der Knieper ein Armeleuteessen ist.
Dieser Hinweis darf offenbar bei keinem Gericht mehr fehlen. Alles, was
heute gut und teuer ist, war ursprünglich ein „Armeleuteessen“. Die
Bouillabaisse aus Marseille (die unter 50 Euro kaum noch in einem
Restaurant zu haben ist) ebenso wie die gesamte toskanische Gourmet-Küche,
für die sich vor allem Zahnärzte, Architekten und die ganze „gehobene
Mittelschicht“ von Friedrich Merz begeistern.
Für die Erfindung des Kniepers soll die Hungersnot nach dem Dreißigjährigen
Krieg verantwortlich sein. Weil Weiß- und Grünkohl fehlten, nahmen die
hungrigen Prignitzer den Tieren den Futterkohl weg und legten ihn wie
Sauerkraut in Steintröge zum Vergären.
Dieser blaue Markstammkohl wird bis zu zwei Meter hoch. Wer ihn in seinem
Garten selbst ziehen will, muss die Samen in einer Handlung für Tierfutter
bestellen. Angeblich sollte Sabine S. aus Kuhbier die Einzige sein, die den
Markstammkohl in der Prignitz noch anbaut und verkauft.
Ich fuhr nach Kuhbier. Schon der Ortsname gefiel mir außerordentlich. Doch
leider hatte Sabine S. die Produktion schon vor fünf Jahren eingestellt und
zeigte sich unwillig, mir mehr über den Knieper zu verraten. „Ich sage dazu
nichts“, sagte sie. Immerhin erfuhr ich, dass in Preddöhl, im
Kümmernitztal, eine Frau namens Jeannine G. wohnen und nun wirklich die
allerletzte verbliebene Knieper-Produzentin sein soll. Ich fuhr nach
Preddöhl, der Name sagte mir nichts. Doch der Hofladen von Jeannine G. war
geschlossen und sie am Telefon kurz angebunden. „Ich möchte zum Knieper
nichts sagen. Wir bauen ihn nicht mehr an.“ Mysterium fidei, Geheimnis des
Glaubens.
Nach langem Suchen fand ich dann doch noch ein Glas mit frischem
Knieperkohl in einer Metzgerei in Pritzwalk. Vorsichtig trug ich es nach
Hause, schnitt eine geräucherte Schweinebacke in dicke Scheiben, legte sie
auf den Kohl und schaltete den Backofen ein. Um es abzukürzen: Ein
betörender Duft entfaltete sich in den folgenden zwei Stunden im ganzen
Haus, er war kaum auszuhalten. Und als das Kraut schließlich auf dem Teller
lag, übertraf es jegliche Erwartung. Lange nicht so derb-säuerlich wie das
schwäbische Sauerkraut und lange nicht so abgestanden-musig wie der
friesische Grünkohl – der Knieper aus der Prignitz ist für mich die
kulinarische Entdeckung dieses Winters.
Aber mehr werde ich dazu nicht sagen. Ich halte es wie Sabine S. und
Jeannine G.: Kein Wort mehr über den Knieper. Sonst kommen am Ende noch die
ganzen Berliner in die Prignitz und man fühlt sich wie in Prenzlauer Berg.
Ein Schwabe in der Prignitz
Kulinarisch wurde unser Autor in Frankreich und Süddeutschland
sozialisiert. An dieser Stelle wird einmal im Monat berichtet, wie er sich
die schlichtere Lebensmittelrealität Brandenburgs erschließt.
22 Dec 2018
## AUTOREN
Philipp Mausshardt
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