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# taz.de -- Die vegane Manege
> Tutu, Pailletten, Applaus und ein bisschen Gefahr. Und salziges Popcorn.
> Der Roncalli Weihnachtszirkus gastiert im Tempodrom. Doch man wird auch
> ohne wilde Tiere bestens unterhalten – ein großes Manko gibt es dennoch
Bild: Wie erzeugt man Nostalgie? Patrick Philadelphia, der Betriebsleiter bei R…
Von Henriette Harris
Zirkus war nie so mein Ding. Zuletzt war ich im Zirkus, als meine Tochter
drei Jahre alt war. Es war ein Zirkus, der jeden Sommer sein Zelt auf einer
unbebauten Wiese in Prenzlauer Berg (die gab es mal) aufgeschlagen hat. In
der Pause durften die Kinder die Tiere streicheln. Franca hat eine riesige
gelb-weiße Schlange gestreichelt. Die Schlange schlief. Dachte ich.
Plötzlich hat sie ihren Kopf gehoben und sich zu meiner Tochter gedreht.
Blitzschnell habe ich das Kind geschnappt, bin aus dem Zelt gerannt und nie
wieder zurückgekehrt.
Jetzt sitze ich mit meiner jüngsten Tochter, die 13 Jahre alt ist, im
Tempodrom. 2.780 Leute haben den Weg in den Roncalli Weihnachtszirkus
gefunden, und ich finde es beruhigend, dass es keine Tiere mehr gibt. Schon
seit den neunziger Jahren keine wilden Tiere – und ab diesem Jahr
überhaupt keine mehr.
Ein paar Tage vorher stand ich in der Manege und habe mit dem
Betriebsleiter und Regisseur geredet. Der Mann heißt Patrick Philadelphia.
So ein Name lässt sich erklären, wenn man weiß, dass der Mann einen
Vorfahren hat, der Magier am Hofe war und von Friedrich Schiller erwähnt
wurde. Dazu hat Philadelphias Urgroßvater mit Seelöwen gearbeitet, sein
Vater mit Pferden. „Wir waren immer im Showbusiness“, sagt Philadelphia.
Selber wollte er nicht Artist werden, aber er arbeitet seit 23 Jahren
hinter den Kulissen von Roncalli.
Also betreibt er jetzt quasi einen veganen Zirkus? Warum? „Die Zeiten
ändern sich. Es war immer schwierig, die Tiere unterzubringen. Wir standen
zum Beispiel auf dem Rathausplatz in Wien und hatten keine Argumente mehr.
95 Prozent unseres Publikums finden es gut so, sie sagen, dass ihnen nichts
fehlt“, sagt Philadelphia.
Ein Techniker hat ein Problem. Er kommt kurz vorbei – zwei Worte des
Betriebsleiters, und das Problem scheint gelöst. Philadelphias 12-jähriger
Sohn Justin ist der jüngste Artist in der Manege; seine Frau, die auch
Artistin war, arbeitet im Merchandising, und seine 22-jährige Tochter ist
als Artistin in der Welt unterwegs.
Aber die Tiere, sogar die Pferde sind weg, die Artisten wohnen nicht mehr
im Zirkuswagen, sondern im Hotel. Kommen denn gar keine nostalgischen
Gefühle auf, auch bei den Besuchern? „Nostalgie kann man nicht einfach so
erzeugen. Aber wir haben die zwei alten Wagen vor dem Eingang, es gibt die
Logen und die Lampen. Und irgendetwas machen wir richtig, weil die meisten
unserer Besucher Wiederholungstäter sind. Sie bestellen schon jetzt die
Karten für nächstes Jahr“, sagt Philadelphia.
Wir sind also gespannt, als wir uns zu den Tönen von John Lennons „And So
This Is Christmas“ setzen. Das Lied erschien zwei Wochen vor meiner Geburt,
ich werde schon jetzt nostalgisch. Die Laune ist gut, es gibt salziges
Popcorn. Wir Dänen wissen das zu schätzen, weil es das hier so selten gibt.
„Ich bin gespannt, ob die Clowns lustig sind“, sagt Rebekka, meine Tochter,
die Clowns normalerweise furchterregend findet. Den Clown Chistirrin aus
Mexiko aber findet sie gut. Er hat nicht nur Humor und ist musikalisch;
nein, er kann auch Sprünge machen und jonglieren. Und ihm gelingt es, die
Trapeznummer von The Flying Jalapeños komplett zu übernehmen.
Die acht Musiker, die wie immer im Zirkus über dem Eingang zur Manege
sitzen, sind richtig gut und geben Gas, als sie die fünf Jambo Brothers und
ihre Seilspringnummer mit einem Blues-Brothers-Potpourri begleiten. Auch
The Cedeño Brothers sind mit ihrer Akrobatik – für die sie zwei Stühle und
vier menschliche Beine brauchen – überzeugend. Oder wie Rebekka sagt: „Das
hier war das Verrückteste!“ Viel wirkt bei dieser Vorstellung wirklich neu
und wird mit Poesie und Pointen ausgeführt. Twin Spin, zwei sehr geschickte
Berliner Jungs, machen das Jonglieren dank eines Diabolospiels spannend,
und als Haitao Kong langsam einen Turm aus Stühlen baut, um ganz oben auf
einer Hand zu balancieren, haben wir beide nasse Handflächen. Als er sich –
vielleicht in einer Höhe von sieben bis acht Metern – mit einem Haken
sichert, muss ich aus Erleichterung klatschen.
Alles schön und gut – aber einen wirklich Mangel gibt es. Einen Mangel an
Frauen. Wenn man eine Teenagertochter hat, die nach Vorbildern schaut, und
diese Tochter neben einem sitzt, ist das keine Kleinigkeit. Warum gibt es
so wenige Frauen? Oder warum gibt es nur Frauen als Staffage?
Gut, zwei Musikerinnen, also weiblich, sind dabei. Und es gibt eine
Sängerin, die aber erst in der zweiten Hälfte dazukommt. Dann wäre da noch
die außerirdische Trapezkünstlerin Sylvia vom Duo Rose, die mit ihrem
Partner Samuel uns für einige Minuten vergessen lässt, dass es Grenzen von
Kraft und Geschmeidigkeit im menschlichen Körper gibt. Aber das war es dann
auch schon.
Denn die sechs jungen Frauen, die wie Pin-up-Girls zwischen den Nummern
auftauchen, kann man nun wirklich nicht mitzählen. Sie springen ein
bisschen rum, richtig gut tanzen können sie nicht, lustig sind sie auch
nicht, aber sie sehen gut aus. Einmal sind sie wie Süßigkeiten verkleidet
(Frauen als Süßigkeiten, come on!) und stolzieren herum zu Rudolf, dem
Rentier. Ein anderes Mal haben sie einen schwarzweißen, hautengen Anzug an,
davon aber nur die Hälfte. Das eine Bein ist nackt, sogar die Pobacke ist
frei.
Ich will nicht prüde sein, aber leider hat man das Gefühl, dass sie nur da
sind, damit die gelangweilten Familienväter, die sonst nie zu kulturellen
Veranstaltungen mitgehen, zufriedengestellt und aufgegeilt werden.
Ich weiß, dass leicht angezogene Menschen zum Zirkus gehören und dazu auch
Frauen in Federn und glitzernden Steinen. Ich rede auch nicht von
Gleichberechtigung, weil ich weiß, dass einige von den Nummern artistisch
vielleicht nur von Männern ausgeführt werden können. Aber ein paar reine
Frauennummern wären toll gewesen, dann hätte man glauben können, dass
Roncalli an allen Fronten – und nicht nur was die Tiere anbetrifft – in der
modernen Zeit ankommen will.
Zirkus war nie so mein Ding – das ist nicht die ganze Wahrheit. Als ganz
kleines Mädchen hatte ich zwei Berufswünsche: Seiltänzerin oder Müllmann.
Warum Seiltänzerin? Na ja, Tutu, Pailletten, Applaus und ein bisschen
Gefahr. Müllmann, weil ich es so cool fand, wie die Männer immer hinten auf
dem Müllwagen standen, wenn er fuhr.
Später habe ich eine ziemliche Höhenangst entwickelt. Und es ist
anstrengend genug, mein eigenes Chaos in Ordnung zu bringen. Nach knappen
drei Stunden im Roncalli Weihnachtszirkus fühle ich mich berührt und
beeindruckt vom vielseitigen menschlichen Können und Willen und den
unzähligen Trainingsstunden, die dahinter liegen.
Aber nächstes Jahr bitte mehr Frauen! Dankeschön.
31 Dec 2018
## AUTOREN
Henriette Harris
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