Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Pionierin des Journalismus: Ein Koffer voller Geschichten
> Suat Derviş lebte als aufstrebende Journalistin im Berlin der 1930er
> Jahre. Ihre Erinnerungen zeichnen ein bewegtes Leben nach.
Bild: Ein Artikel von Suad Derwisch (dt. Schreibweise), veröffentlicht 1931 in…
„1930, an einem kühlen Tag, stieg ich die breiten Steinstufen des Berliner
Anhalter Bahnhofs hinab. Achtzig Mark hatte ich in der Tasche – das war
alles, was noch übrig war von dem Geld, das ich in Istanbul mit meinem
letzten Roman verdient hatte. An dem Tag, an dem diese achtzig Mark
aufgebraucht waren, müsste ich anfangen in Deutschland Geld zu verdienen.
Ach, könnte ich die achtzig Mark doch bis in alle Ewigkeit strecken!“
Suat Derviş' Plan war es, im Berlin der 1930er Jahre von den Honoraren für
ihre Texte zu leben. In einem Land, in dem die Nationalsozialisten in
diesen Jahren alles daran setzen, um an die Macht zu gelangen, war es für
sie als ausländische Autorin nicht einfach auf eigenen Beinen zu stehen.
Noch dazu als Schriftstellerin, die für die Rechte der Frauen kämpfte –
doch ihr Vorhaben gelang und sie erreichte sogar weit mehr als das.
2017 verlegt Ayla Duru Karadaǧ die Erinnerungen der ungewöhnlichen
Publizistin im Verlag İthaki unter dem Titel Anılar, Paramparça
(„Erinnerungen, Bruchstücke“). Als „revolutionäre Form der Auflehnung“
deutet die Verlegerin Karadaǧ das damalige Auswandern der türkischen
Autorin.
Derviş wurde 1903 als Tochter eines angesehenen Arztes geboren und wuchs in
einer wohlhabenden Familie in Istanbul auf. Bereits in ihrer Jugend lernte
sie Deutsch und Französisch und interessierte sich für die bildenden
Künste. Auch wenn heute nur wenige ihrer Romane erhältlich sind, so hatte
sie vor ihren Berliner Jahren bereits Hunderte von Kurzgeschichten,
Interviews und Theaterstücken veröffentlicht. Ihre 31 Fortsetzungsromane
erschienen vorwiegend in den damaligen Zeitungen.
## „Wir hatten Glück“
Die Schriftstellerin kommt zu einer Zeit nach Deutschland, in der die
Nationalsozialisten überall im Land auf dem Vormarsch sind. Derviş schreibt
in ihren Memoiren, dass ihr auf der Straße oft Ausgrenzung und Rassismus
begegneten. Nach einem gemeinsamen Essen mit einer ungarischen Familie wird
sie auf offener Straße von Mitgliedern der SA angegriffen:
„Plötzlich riefen sie: „Verdammte Juden!“, und rannten los. Sie verfolgt…
uns! Wir konnten gerade noch an der nächsten Ecke in ein Taxi springen. Wir
hatten Glück. Wäre der Wagen nicht sofort gestartet, hätten wir dort
ordentlich Prügel eingesteckt. Denn der Hass auf Jüdinnen und Juden macht
keinen Unterschied zwischen Mann und Frau.“
Suat Derviş hütete ihren Koffer mit ihren übersetzten Erzählungen und
Texten wie einen Augapfel. Sie war überzeugt davon, dass die Texte ihre
einzige Chance sind, um in dem neuen Land nicht obdachlos zu werden und zu
hungern. Aber ihr Selbstvertrauen aus Istanbul schwand, je länger sie in
Berlin lebte. Sie fürchtete, dass niemand ihre Texte drucken wollte: „Warum
nicht? Ich kann auch schreiben! Die deutschen Schriftsteller werden bei uns
mit Freude gelesen, wenn man sie in unsere Sprache übersetzt, also werde
auch ich meine Texte übersetzen lassen und man wird sie hier in Deutschland
lesen!“
## Ihr erster Artikel auf Deutsch erscheint in einer Friseurzeitung
Die Redaktion der Vossischen Zeitung erteilt ihr prompt eine Zusage. Es
folgen die ehemals renommierten Zeitschriften UHU, Die Woche und
Gartenlaube, die ihre Texte veröffentlichen wollen. Doch ihr Honorar lässt
auf sich warten und sie besitzt kaum noch Erspartes. Eines Tages sieht sie
die Anzeige in Die Friseurzeitung. Der zuständige Redakteur erklärt, in der
Zeitschrift würden ausschließlich Artikel zum Friseurberuf veröffentlicht:
„Was verdient ein Friseur in der Türkei? Wie hoch sind die Steuern? Welche
Ausgaben hat er noch pro Tag? Wenn Sie bis Dienstag einen Artikel dazu
liefern können, veröffentlichen wir ihn in der Freitagsausgabe.“
Derviş nimmt den Auftrag aus Verlegenheit an, schreibt einen Artikel über
die Situation von Friseuren in der Türkei und streut ausgedachte Zahlen
ein. „Der arme Chefredakteur der Friseurzeitung hat mir den Bericht über
das Einkommen von Friseuren in Istanbul doch tatsächlich abgenommen und den
Text lobend publiziert. Für diesen Artikel habe ich in unserer Währung 25
Lira erhalten. Wenn der wüsste!“
Suat Derviş veröffentlicht weitere Texte und kann tatsächlich bald von
ihren Honoraren als Journalistin und Schriftstellerin leben. Gleichzeitig
erhält sie Anfragen von Zeitungen, die über sie berichten wollen. Eine
türkische Schriftstellerin, die in Deutschland arbeitet, erregt viel
Aufmerksamkeit. Sie verfasst einen Roman, der als Fortsetzungsroman in
einer Zeitung erscheint, sowie etliche Buchrezensionen und verschiedene
Reportagen.
## Sie verdient nun den Lebensunterhalt ihrer Familie
Suat Derviş‘ Karriere endet mit der Krankheit ihres Vaters. Überall in den
Straßen von Berlin hängen Anzeigen zu ihrem Roman „Die Frauen des Sultans“
(Sultanın Kadınları), den sie innerhalb von 14 Tagen schrieb. Sie holt
ihren Vater nach Berlin, um ihn hier behandeln zu lassen. Sein Zustand
verschlechtert sich und er verstirbt in Berlin, wo er auf dem muslimischen
Friedhof begraben wird. Sein Tod überschattet den großartigen Erfolg, den
ihr Roman in Berlin hat. Später beschreibt sie diese Tage als die schwerste
Zeit ihres Lebens.
1933 kehrt Derviş in die Türkei zurück, um sich um ihre Mutter und
Schwester zu kümmern, deren wirtschaftliche Situation sich nach dem Tod des
Vaters gravierend verschlechtert haben. Sie publiziert Artikel und
Fortsetzungsromane für fast alle türkischen Zeitschriften und Zeitungen der
damaligen Zeit.
Die Verlegerin Ayla Duru Karadaǧ erkennt in Suat Derviş`
Fortsetzungsromanen aus den 1940er Jahren eine starke feministische Ader:
„In den verfügbaren Texten liest man von Suat Derviş an keiner Stelle den
Satz ‚Ich bin Feministin‘. Aber die Frauen in ihren Romanen sind
feministisch, frei und selbstbestimmt.“ Dass die Protagonisten in ihrem
Roman Fosforlu Cevriye („Die grelle Cevriye“) bereits den Spruch „Mein
Körper, meine Entscheidung!“ prägte, sei für ihre Zeit besonders
bemerkenswert. „Wir sind hier in der Türkei eigentlich erst seit etwa
wenigen Jahren in der Lage, solche Parolen auf Plakate zu schreiben und
laut zu schreien“, sagt Karadaǧ.
Nach ihrer Rückkehr in die Türkei beschäftigt sich Derviş als Journalistin
mit sozialen Themen und schreibt Reportagen über Obdachlose, Alkoholiker
und Probleme von Frauen. Für die Zeitung Tan fährt sie in die Sowjetunion
und spricht mit Menschen auf Straßen und Bahnhöfen über deren Alltag. Sie
interviewt schwangere Frauen über die langen beschwerlichen Bahnfahrten.
Bis 1972, ihrem Tod, schuf Suat Derviş unzählige Werke und gehört damit zu
den Pionierinnen des Journalismus in der Türkei. „So lange es Klassenkämpfe
gibt“, ist die Verlegerin Karadaǧ überzeugt, „wird Derviş' Werk aufgrund
ihrer Themen immer aktuell bleiben.“
Übersetzung: Judith Braselmann-Aslantaş
3 Dec 2018
## AUTOREN
Ayse Gülen Eyi
## TAGS
taz.gazete
taz.gazete
## ARTIKEL ZUM THEMA
Suat Derviş'in hikayesi: Seksen Mark ile Berlin'de
Yazar ve gazeteci Suat Derviş 1930 yılında cebinde seksen Mark ve
çantasında yazılarıyla Almanya'ya gider.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.