# taz.de -- Interview zu türkischer Außenpolitik: „Eine goldene Chance für… | |
> Welche Strategie verfolgt die Türkei im Nahen Osten? Die Politologin Arzu | |
> Yılmaz über goldene Chancen, Expansionspolitik und die Rolle der | |
> Deutschen. | |
Bild: Arzu Yılmaz in der Berliner Stiftung für Wissenschaft und Politik | |
taz.gazete: Frau Yılmaz, die Türkei ist Nato-Mitglied, hat aber dennoch mit | |
der oppositionellen Freien Syrischen Armee das kurdische Afrin angegriffen | |
und besetzt. Können Sie uns erklären, was da passiert ist, und was | |
Präsident Erdoğans Absichten sind? | |
Arzu Yılmaz: Bis vor Kurzem bestimmte die Nato-Allianz mehr oder weniger | |
das Handeln der Türkei im Nahen Osten. Die Vision des früheren Premiers und | |
Außenministers Ahmet Davutoğlu war es jedoch, türkische Interessen und | |
nicht die der westlichen Allianz ins Zentrum der türkischen Außenpolitik zu | |
rücken. So begann die Türkei eine expansive Politik auf dem Gebiet des | |
früheren Osmanischen Reichs. Unter diesen Umständen scheint die | |
Kurdenfrage als Rechtfertigung zu dienen, sowohl im Irak, als auch in | |
Syrien. Mit internationaler Duldung kontrolliert die türkische Armee nach | |
eigenen Angaben im Nordwesten Syriens ein 7.000 Quadratkilometer großes | |
Gebiet. | |
Will Recep Tayyip Erdoğan tatsächlich das Osmanische Reich wieder aufleben | |
lassen? | |
Das ist reine Rhetorik. Für die Türkei ist es nützlich, einen sogenannten | |
failed state auf der anderen Seite der Grenze zu haben. So eine Staatsruine | |
eröffnet politisch und ökonomisch ganz wundervolle Möglichkeiten. Der Irak | |
ist ein Beispiel, wo türkische Unternehmen kräftig am Wiederaufbau des | |
Landes mitmischen. | |
In Syrien aber scheint Präsident Assad mit Hilfe Russlands wieder die | |
Oberhand zu gewinnen… | |
Es ist ausgeschlossen, dass Syrien wieder in den Vorkriegszustand | |
zurückkehrt. Die Türkei hat derweil Millionen syrischer Flüchtlinge | |
aufgenommen. Das ist für Erdoğan eine goldene Chance, Einfluss auf den Lauf | |
der Dinge in Syrien zu nehmen. Im Moment ist die Türkei außerdem die | |
einzige Regionalmacht, die noch syrische oppositionelle Kräfte beherbergt. | |
Letztendlich stärkt das die Position der Türkei in den Beziehungen mit | |
Russland, Deutschland und selbst den USA. Die wollen sich schlicht nicht | |
die Hände schmutzig machen… | |
… und Erdoğan ist dazu bereit? | |
Er drängt sich danach, diesen sehr schmutzigen Job zu erledigen, mit all | |
seinen politischen und ökonomischen Kosten. Das macht seine Position sehr | |
stark. Ihm wird ja auch überall der rote Teppich ausgerollt, weil er eben | |
der Einzige ist, der keine Hemmungen hat, öffentlich dschihadistische | |
Gruppen zu unterstützen, ideell und ganz handfest. | |
Warum ist es so schwer, eine Lösung für die Kurden zu finden, zum Beispiel | |
eine Form der Autonomie? | |
Weil international keine Änderung im Nahen Osten gewünscht wird. Eine | |
Autonomie würde zwangsläufig den Status quo aufheben. Wenn wir nach Ägypten | |
schauen, sehen wir, dass al-Sisis Putsch international akzeptiert wird. | |
Genauso ist man bereit, auch Assad wieder auf der internationalen Bühne | |
willkommen zu heißen. | |
Russland ist eine neue Kraft in der Region. Macht das einen Unterschied? | |
Das russische Eingreifen in Syrien hat tatsächlich die Haltung der | |
internationalen Gemeinschaft gestärkt, die die territoriale Integrität der | |
Staaten des Nahen Ostens unberührt lassen will. Russland spielt eine | |
Hauptrolle bei der Verteidigung dieser Integrität. | |
Welche Rolle spielt der Westen mit Blick auf die Türkei? | |
Der amerikanische Einfluss geht zurück und Europa hat es nicht eilig, | |
einzugreifen oder das Machtvakuum im Nahen Osten zu füllen. Offensichtlich | |
geht deshalb die Türkei davon aus, dass sie auf absehbare Zeit mehr Raum | |
hat, auf dem syrischen Kriegsschauplatz zu operieren. Ich denke, dass es | |
deshalb keine Abkehr von der Expansionspolitik gibt. Die Türkei handelt | |
recht pragmatisch, indem sie gleichzeitig mit den Amerikanern im Irak und | |
den Russen in Syrien kooperiert. | |
Die deutsche Regierung hat während des Angriffs auf Afrin nicht viel mehr | |
getan, als zur Zurückhaltung aufzurufen. Kommt das von der Angst vor | |
weiteren Flüchtlingen? | |
Was man nicht vergessen darf, ist, dass für die Deutschen die eigenen | |
Sicherheitsbedenken Priorität haben. In diesem Kontext prägt die | |
Flüchtlingskrise die deutsch-türkischen Beziehungen. Darüber hinaus | |
versuchen die Deutschen in der Abwesenheit der Amerikaner eine neue | |
Sicherheitsarchitektur zu installieren. Der frühere Außenminister Sigmar | |
Gabriel erklärte, dass man, unabhängig davon, ob es den Deutschen gefalle, | |
in Zukunft wohl eine stärkere Rolle im Nahen Osten spielen würde. Besonders | |
der letzte Erdoğan-Besuch in Deutschland zeigte, dass die | |
deutsch-türkischen Beziehungen auch mit der deutschen Position im Nahen | |
Osten zusammenhängen. Da gibt es sich überschneidende Interessen. | |
Was würden Sie Angela Merkel im Umgang mit Erdoğan empfehlen, wenn sie Sie | |
fragen würde: ‚Was soll ich tun?‘ | |
Wenn denn eine Empfehlung nötig wäre, würde ich mir wünschen, dass die | |
deutsche Regierung eine Stimme der freien Welt wäre. Trump ist ja ein | |
schlechter Witz. Unter den gegebenen Umständen wäre es gut, wenn | |
Deutschland die Stimme für die Rechte aller Menschen erhebt, auch die der | |
Kurden. | |
Mitarbeit: Nermin Pınar Erdoğan | |
Aus dem Englischen von Daniél Kretschmar | |
Das neue Journal: Dieser Artikel ist im zweiten gazete-Journal erschienen. | |
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10 Dec 2018 | |
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## AUTOREN | |
Andreas Lorenz | |
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