# taz.de -- Terminstress im Dezember: Das Jahresende ist keine Deadline! | |
> Der Dezember ist der Monat, in dem so viele Treffen wie möglich | |
> stattfinden sollen. Noch in diesem Jahr, heißt es oft. Warum nur? | |
Bild: Wie wenig festlich das doch ist: Am besten schon bis zum Weihnachtsfest s… | |
Neulich bekam ich eine Nachricht von einer Bekannten. Sie ist keine beste | |
Freundin, aber es ist immer schön, sie zu treffen. Wir müssen uns unbedingt | |
in diesem Jahr noch sehen, schrieb sie mir. Dahinter: drei Ausrufezeichen. | |
Ich wusste nicht, ob ich mich über diese Nachricht freuen sollte. Das Jahr | |
ist fast vorbei und wir hatten es in den letzten sechs Monaten nicht | |
geschafft, uns zu verabreden. Erst war ich im Ausland gewesen, dann sie, | |
dann hatten wir beide viel zu tun, dann fanden wir einen Termin, für einen | |
Wein am Mittwochabend, dann wurde ihr Kind krank, dann wurde es ein | |
Frühstück am Freitagmorgen und daraus ein Mittagessen. Aber auch das | |
klappte nicht. | |
Wir bekommen das hin, schrieb sie noch. Sie schien sich ernsthaft Sorgen | |
darüber zu machen, ob ich die Aussicht, sie erst im neuen Jahr zu sehen, | |
verkraften würde. Ich fand das irgendwie auch rührend. | |
Ich kenne Menschen, die ziemlich euphorisch werden, wenn ihre Hochzeit in | |
einem bestimmten Jahr stattfindet oder an einem bestimmten Datum. Ich habe | |
mich mal mit einem Standesbeamten darüber unterhalten, und es gibt, was | |
diesen Tag angeht, manchmal sehr genaue Vorstellungen. Manche Paare mögen | |
zum Beispiel Primzahlen und glauben, dass diese Kombination dazu führt, | |
dass ihre Ehe ein Leben lang hält. Heiraten wollten meine Bekannte und ich | |
nun wirklich nicht. Für mich spielt es keine Rolle, ob beim Datum des | |
Wiedersehens am Ende eine 18 steht oder nicht. Es wird keine Chronik geben, | |
in der man Jahrhunderte später lesen kann, dass wir im Jahr, [1][als Angela | |
Merkel ihren Rücktritt ankündigte] und [2][der Brexit unabwendbar wurde], | |
einen Wein in einer beliebigen Berliner Bar tranken. | |
Dieser irrationale Impuls, sich im alten Jahr noch unbedingt sehen zu | |
wollen, ist etwas, was ich jedes Jahr im Dezember beobachte. | |
Nicht nur beim Verabreden scheint es diesen unabdingbaren Wunsch zu geben, | |
wirklich alles, was man in den elf Monaten vorher nicht geschafft hat, noch | |
in diesen Monat zu pressen. Eine Art Jahresende-Torschlusspanik. | |
Im Internet [3][finden sich ganze Ratgeberlisten], auf denen detailliert | |
beschrieben wird, was man vor dem Jahreswechsel noch unbedingt erledigen | |
muss. | |
## Den Schreibtisch aufräumen, den Posteingang leeren | |
Man sollte zum Beispiel den Schreibtisch und Desktop aufräumen, lese ich | |
dort, den Posteingang auf null bringen, die Steuererklärung machen, die | |
To-do-Liste fürs nächste Jahr vorbereiten. Ich möchte an dieser Stelle | |
nicht pessimistisch sein, aber vermutlich sind diese To-do-Listen genau | |
jene, die man bis Ende November nicht umsetzt – und die dann die ganze | |
Panik hervorrufen. Ein Teufelskreis. | |
Es scheint, als würde sich die Zeitwahrnehmung zum Jahreswechsel hin | |
verändern. Wie ein Zeitraffer bei einem Video. Man glaubt plötzlich, seine | |
Zwölf-Monats-Checkliste im Schnelldurchlauf abarbeiten zu müssen. | |
Zugegeben: Die Tage am Jahresende sind oft melancholische. Man neigt dazu, | |
das Jahr Revue passieren zu lassen, das meistens irgendwie okay war, | |
mittelmäßig produktiv, mittelmäßig aufregend, mittelmäßig erfolgreich, und | |
denkt: Es muss etwas passieren, jetzt unbedingt. Zumindest der Dezember | |
soll alles rausreißen, das wettmachen, was man im Laufe des Jahres | |
verpasst, verplant oder vergessen hat. | |
Der Dezember soll auch ein Vorbote sein, eine Verheißung darauf, dass das | |
nächste Jahr auf jeden Fall besser werden soll, aufregender, interessanter, | |
intensiver. | |
Dass man sich Zeit nimmt, für Freunde und Bekannte, seine Termine einhält | |
und seine Pläne umsetzt. Die Metamorphose zu einem besseren Menschen, zu | |
seinem besseren Ich, beginnt quasi in diesem letzten Monat. Mir tut der | |
Dezember immer etwas leid. Kein Monat steht so sehr unter Druck wie er. | |
Für viele kommt der Jahreswechsel einer strengen Deadline gleich. Es ist | |
an sich schon etwas gruselig, dass im deutschen Sprachraum der englische | |
Begriff inflationär gebraucht wird. Zum Ende des Jahres geht es, könnte man | |
meinen, nun wirklich um Leben und Tod. | |
Als gäbe es womöglich kein 2019 mehr. | |
## Man kann vom Mittelalter Gelassenheit lernen | |
Es gab Zeiten, da ließ ich mich von dieser Dezember-Manie anstecken. Ich | |
scheiterte natürlich mit all meinen ehrgeizigen Plänen und Vorhaben und war | |
am Ende vor allem eines: frustriert. Dann beschäftigte ich mich während | |
meines Studiums relativ intensiv mit dem Mittelalter. Das kann ich nur | |
jedem, der im Dezember in Panik verfällt, empfehlen. | |
Man kann nämlich so einiges von dieser Epoche lernen. Gelassenheit am | |
Jahresende zum Beispiel. Ich jedenfalls lasse mich nicht mehr stressen. Im | |
Mittelalter spielte nämlich ein Jahreswechsel oder gar ein Wechsel von | |
einem Jahrhundert in das nächste schlichtweg keine Rolle. | |
Ihren Lebensrhythmus orientierten die Menschen an den Jahreszeiten, am Mond | |
oder der Sonne. Für sie war es wichtig, ob es regnete, ob es langsam wieder | |
wärmer wurde oder ob es Frost gab, an welchem Tag sie beginnen konnten, | |
ihre Samen in die Erde zu setzen, und wann es Zeit war, das Getreide zu | |
ernten. Jeder Hof hatte seinen ganz eigenen individuellen Rhythmus. In | |
einem Weinbaugebiet war das Zeitempfinden ein anderes als in einem | |
abgelegenen Bergtal. | |
Dass ein neues Jahr anfing, interessierte damals niemanden. Sie hatten | |
andere Probleme. Erst mit der Neuzeit, mit der Moderne wurde die Zeit | |
künstlich synchronisiert. Mit Uhren, mit Kalendern und Abgabefristen. | |
Ich habe nichts gegen Selbstreflexion und auch nichts dagegen, das Jahr im | |
Dezember Revue passieren zu lassen. Und klar, wer gerne To-do-Listen | |
schreibt, kann das natürlich auch im Dezember machen. Und nein, ich wünsche | |
mir nicht das Fegefeuer zurück oder die Kreuzzüge. Aber etwas mehr | |
mittelalterliche Gelassenheit zum Ende des Jahres würde uns guttun. | |
Und ganz ehrlich: Ich bin natürlich kein Bauer, der Gemüse erntet und bei | |
seiner Arbeit ziemlich existenziell vom Wetter abhängig ist. Aber mir ist | |
es zurzeit auch wesentlich wichtiger, ob und wie viel es regnet, und mir | |
macht es Sorgen, dass die Sonne diesen Sommer viel zu viel schien. Der | |
Klimawandel beschäftigt mich weit mehr als der Jahreswechsel. | |
Ich habe meiner Bekannten natürlich geantwortet. Lass uns nächstes Jahr | |
sehen, vielleicht im Januar irgendwann, schrieb ich. Klingt großartig | |
(!!!), war ihre Antwort. Ich mag sie wirklich sehr. | |
22 Dec 2018 | |
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## AUTOREN | |
Linda Tutmann | |
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