# taz.de -- Der Dichter als Schwan auf der brandungslosen Welle | |
> In seinem Lyrikband „Cherubinischer Staub“ schürft Christian Lehnert in | |
> der religiösen Dichtung der Vergangenheit und sucht nach einer | |
> gegenwärtigen Innigkeit | |
Bild: „Der Schwan berührt das Meer genau an jener Stelle“ – Höckerschwa… | |
Von Eberhard Geisler | |
In der gegenwärtigen deutschen Literatur sind verstärkt die Trümmerfrauen | |
unterwegs. Noch siebzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs sind sie | |
damit beschäftigt, Verschüttetes freizulegen und an geistige Traditionen | |
anzuknüpfen, die die deutsche Barbarei, in ihrer Verblendung überzeugt | |
davon, Deutschtum zu bewahren, indem man Fremdes ausgrenzt, beinahe | |
vollständig ausradiert hatte. | |
Christian Lehnert, der soeben seinen siebten Gedichtband vorlegt, gehört zu | |
diesen erfreulichen Gestalten. Wozu sein Schürfen in der Vergangenheit | |
führt, ist eine Wiederentdeckung der Innigkeit. Matthias Claudius ist in | |
seinem Jahrhundert verankert und sicherlich nicht wiederholbar, aber | |
offenkundig hat hier ein Dichter der Gegenwart den Mut, auf dem Boden | |
geistlicher Überlieferung erneut einen Einklang von Seele und Welt zu | |
suchen. | |
Das Nachdenken über Literatur hatte in den vergangenen Jahrzehnten im | |
Gefolge Nietzsches gestanden. Der spurlos verschwundene Gott hatte auch die | |
Sätze entleert zurückgelassen, und schwarz auf weiß gedruckt konnte man | |
nichts Sicheres mehr nach Hause tragen. Wie der Dekonstruktivismus zu | |
zeigen bemüht war, erwiesen die Texte der Moderne längst ihre rettungslose | |
Unlesbarkeit. Diese Lektüre-Strategie hatte ihre Berechtigung darin, dass | |
es in der Philosophie galt, traditionelle Vorstellungen von Ursprung und | |
Mitte – und damit von Sinn – tatsächlich in Frage zu stellen, aber sie | |
gefiel sich letztlich doch ein wenig zu sehr in einer Sinnlosigkeit, die | |
sie in ausufernden Kommentaren zelebrierte. | |
Lehnert setzt hier einen entschiedenen Schnitt. Er greift kühn auf den | |
schlesischen Barockdichter Angelus Silesius zurück und schreibt gleichfalls | |
kurze Epigramme (der Titel seines Buchs spielt auf dessen Werk | |
„Cherubinischer Wandersmann“ an). Was er dadurch erreicht, ist eine | |
gleichsam blendende Verknappung, und der Leser macht die Erfahrung, dass, | |
wenn die Texte schrumpfen, das Wort wieder ersteht. Offenkundig tut die | |
Bezugnahme auf die religiöse Dichtung der Vergangenheit der dichterischen | |
deutschen Sprache derzeit wieder gut. | |
Das bedeutet nicht, dass Lehnert auf jene schlechte Metaphysik zurückfällt, | |
die der Dekonstruktivismus zu Recht gebrandmarkt hatte. Im Gegenteil. Eine | |
Zeile lautet: „Ein Kreis hat eine Mitte? Hat den Schwindel.“ Der Mitte zu | |
gedenken heißt, sie nicht länger als Fundament zu verstehen, sondern als | |
dessen Erschütterung. Wenn in diesen Epigrammen Dinge wieder entziffert, | |
Phänomene der Natur mit einem Doppelpunkt versehen und wieder benannt | |
werden können, dann erweisen sich diese Deutungen eher als von außerhalb | |
einbrechende Offenbarungen denn als eigenmächtige Konstruktionen eines | |
Subjekts. | |
In einem Zweizeiler aus dem November 2016 heißt es: „Pupillenrund und rot, | |
der Apfel lockt von weit. / So heißt der kahle Baum: Durchbrochen liegt die | |
Zeit.“ Allzu gern, hat Derrida uns aufgeklärt, hatte der abendländische | |
Denker sich im Gegenstand gespiegelt, um sich an der Idee des Zentrums zu | |
berauschen: in der Welt ein Zentrum suchen, weil man selbst gerne eines | |
wäre! Lehnert sprengt diese Naivität auf. | |
Der Naturlyrik eines Wilhelm Lehmann etwa ist anzumerken, dass sie während | |
des „Dritten Reichs“ in der inneren Emigration entstanden und die Natur in | |
ihr auf ein Refugium reduziert worden ist, in dem sie zu ersticken droht. | |
Unser Zeitgenosse Lehnert schreibt dagegen in einem weiten Raum, der nach | |
oben hin offen ist und den Dichter in sein von frischem Wind durchpustetes, | |
vielleicht gar randloses Gewebe mit einbezieht: „Des Morgens Glück, Milan, | |
kreist mit dem Wind nach oben. / So heißt der frühe Tag: Wir werden | |
eingewoben.“ | |
Welche stolze Aufgabe dem Dichter damit zufallen kann, macht der Zweizeiler | |
„Epiphanie“ deutlich: „Der Schwan berührt das Meer genau an jener Stelle… | |
wo Licht verstanden wird, die brandungslose Welle.“ Der Dichter – der | |
Schwan ist sein Symbol schon bei Charles Baudelaire – berührt die Welt in | |
großer Treffsicherheit dort, wo sie brandungslose Welle, also überzeitlich | |
ist, und er selbst als Lichtträger gelten und sich als solcher auch | |
erweisen darf. Derlei ist in der gegenwärtigen deutschen Lyrik unerreicht | |
und von bleibender Schönheit. | |
Schließlich ist es Behausung und Weite zugleich, was Lehnert bei seiner | |
Aufräumarbeit zu schaffen versteht. Der letzter Teil des Buchs enthält | |
erzählende Gedichte. Drei von ihnen sind den Weisen aus dem Morgenland | |
gewidmet, die seinerzeit einem Stern nach Bethlehem folgten. | |
Über „Kaspar“ heißt es, dass er auf seiner Wanderschaft plötzlich inneh�… | |
und die Pilgerschaft nicht mehr fortsetzt, weil er begriffen hat, dass die | |
eigentliche Lehre von Bethlehem darin besteht, es nicht länger als Ziel | |
aufzufassen: „Er war es selbst, der sein Ziel / setzte, hat’s lachend | |
verloren: / Wo immer es dem Gott gefiel, / ward Gott in der Welt geboren.“ | |
Für Kaspar ist es ein heiter stimmender Vorgang, wenn Gottes Antlitz | |
unvermutet erkannt werden kann, in Gesichtern von Menschen nah und fern und | |
ohne Unterschied. Lehnert weiß, dass er sich auch in der Ferne Rat holen | |
muss. Gern darf es ein Weiser aus dem Morgenland sein. | |
20 Oct 2018 | |
## AUTOREN | |
Eberhard Geisler | |
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