# taz.de -- Das abgerüstete Schreiben | |
> Der Schriftsteller Peter Waterhouse entdeckt in einem Essay | |
> Vielsprachigkeit und Pazifismus bei dem Klassiker Heinrich von Kleist | |
Von Eberhard Geisler | |
Als Heinrich von Kleist in Würzburg einmal durch ein altes Tor schritt, | |
überkam ihn die Einsicht, dass die Steine des Gewölbes unweigerlich | |
herabstürzen würden, wenn sie sich nicht gegenseitig hielten. Die Gegenwart | |
entbehrte plötzlich vertrauter Fundamente und Gewissheiten. Nun hat Peter | |
Waterhouse, britisch-österreichischer Schriftsteller, in einem großen Essay | |
eine Lektüre des Kleist’schen Werks vorgelegt, die deutlich macht, dass | |
dieses aus der tief empfundenen Erschütterung heraus eine literarische | |
Produktivität zu entfalten vermochte, die sich gerade für unsere Gegenwart | |
als relevant erweist. Wenn sich angesichts metaphysischer Bodenlosigkeit | |
nur weiterhin Wort an Wort reiht, wie sich im Würzburger Gewölbe Stein an | |
Stein fügt, so können wir folgern, ergibt sich – aller Todessehnsucht des | |
Autors zum Trotz – eine heitere, schier grenzenlose Öffnung zur Welt. | |
Waterhouse beginnt nicht von ungefähr mit einer Durchsicht des | |
Theaterstücks „Der zerbrochne Krug“. Das titelgebende Bild von dem in | |
Scherben gegangenen Gefäß verweist auf eine Sprache, die als Einheit selbst | |
zerbrochen und nun zu einer die Nationalsprache in ihrem Einheitsgebaren | |
zersplitternden poetischen Rede geworden ist. Kleist beherrschte das | |
Französische perfekt, und von Potsdam aus war ihm das nahe Berlin präsent, | |
das fast zu einem Viertel von Hugenotten bewohnt war, die die Sprache ihrer | |
Heimat sprachen. Sein Stück spielt nicht nur in einem Dorf bei Utrecht, | |
sondern nimmt fremde Wörter auf wie „Detz“ beziehungsweise niederdeutsch | |
„deets“ für Kopf, oder die Wassergeusen, französisch „gueux“, Vagabun… | |
und Freiheitskämpfer, die als Fremdwort nun das Streben nach jedweder | |
politischen Überlegenheit unterminieren. | |
Ähnlich verfährt das Drama „Die Hermannschlacht“, von dem Waterhouse mein… | |
dass es eigentlich gar nicht auf Deutsch geschrieben sei. Das dort | |
verwendete Wort „Horde“ etwa verweist auf einen asiatischen Ursprung, und | |
wir haben es insgesamt mit einer Nomadensprache zu tun, die als ortlose und | |
nicht länger nationale aufgefasst ist. Kleist hat in diesem Stück auffällig | |
viele Gedankenstriche gesetzt, von denen wir erfahren, dass er auf diese | |
Weise das Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald, errichtet zur Feier der | |
Germanen, umgekippt beziehungsweise zumindest angetippt hat, um gegen | |
dessen Herrschaftsgestus Einspruch zu erheben. Inmitten einer Zeit blutiger | |
Kriege entwirft der Dichter Waterhouse zufolge eine pazifistische Schrift. | |
Das sind weitreichende Deutungen, doch sie haben ihren Charme. Das | |
abgerüstete Schreiben ist nicht mehr rechthaberisch, verwendet Sprache | |
nicht mehr instrumentell und gleicht sich immer mehr der Musik an. In | |
seiner Bewegung wird es zu Klang und überwindet auf diese Weise Grenzen. | |
Waterhouse fragt: „Ist das Klingen endlos, grenzenlos, Grenzen überquerend, | |
etwas, was viel mehr ist als Deutsch? Geht in dieser Rede … die Sprache | |
hinaus über ihre Grenzen, bis in alle Welt?“ Goethe war von Kleists | |
Schaffen zutiefst irritiert und ahnte nicht, dass der preußische Kollege | |
doch ebenfalls an einem Konzept von Weltliteratur arbeitete – und dies wohl | |
konsequenter. Um des Fremden willen muss nämlich auch das Konzept starrer | |
Ich-Identität infrage gestellt werden. | |
Mit der Methode fortgesetzten Fragens knüpft Waterhouse an die Vorgaben des | |
Dekonstruktivismus an und stellt dabei eine Aufmerksamkeit unter Beweis, | |
die nicht von einer Verweigerung von Sinn, sondern von Entdeckerfreude | |
bestimmt ist. So spricht er im Gefolge des Poststrukturalismus von der | |
Notwendigkeit der Übersetzung und der eigentlichen Inexistenz des | |
Originals, das erst in seinen Repliken zu sich selbst finden und Deutungen | |
ermöglichen kann, sucht dabei aber bloße Beliebigkeit zu vermeiden. | |
Der Komponist Dieter Schnebel hat einmal formuliert, wie er sich ein | |
avantgardistisches Verhältnis von vorgegebener Partitur und dem Ensemble, | |
das schließlich die Aufführung realisiert, vorstellt: „Indem einer dem | |
anderen ins Handwerk pfuscht, entstehen Konflikte und dadurch neue | |
Möglichkeiten der Produktion: Interpretation als Auseinandersetzung.“ Von | |
einem Konflikt mit Kleist kann bei Waterhouse nicht die Rede sein, aber er | |
setzt Schnebels Idee doch prinzipiell bereits für Philologie und eigenes | |
Schreiben um. Er zeigt, dass es bei der Lektüre des eigenen Hinzutuns | |
bedarf, und dass erst dieses produktive Hinzutun die Texte der | |
literarischen Überlieferung aufzuschlüsseln und lesbar zu machen vermag. | |
Das Buch ist lehrreich und vergnüglich für alle Leser! | |
Peter Waterhouse: „Equus. Wie Kleist nicht heißt“. Matthes & Seitz, Berlin | |
2018, 152 Seiten, 22 Euro | |
28 Nov 2018 | |
## AUTOREN | |
Eberhard Geisler | |
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