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# taz.de -- Das Trauma vernarbte nie
> Unter dem Decknamen Dora machte Freud Ida Bauer als Patientin
> weltberühmt. Nun gibt ihr die Autorin Katharina Adler in einem
> berührenden Roman ihren Namen und ihr Leben zurück: „Ida“
Bild: Ida Bauer (l.) als Achtjährige mit ihrem Bruder Otto
Von Stephan Wackwitz
Unerfreulich verwickelte Familienverhältnisse zu Beginn des vergangenen
Jahrhunderts: Ein österreichischer Großindustrieller von prekärer
Gesundheit (Spätfolgen der damals nicht behandelbaren Syphilis) hat kein
Interesse mehr an seiner eigenen Frau und wendet sich der eines
Familienfreundes zu. Der wiederum revanchiert sich damit, dass er die
14-jährige Tochter seines Rivalen sexuell belästigt – und während all
dessen geht der gesellschaftliche Verkehr der beiden großbürgerlichen
Häuser weiter, als existierten die skandalösen und unheimlichen Vorgänge
auf der Hinterbühne überhaupt nicht.
Mit 18 rutscht die Tochter, begreiflicherweise, in eine psychische Krise.
Der Vater schickt sie zu Sigmund Freud, der ihre „Hysterie“ drei Monate
lang, bis zum Abbruch der Sitzungen durch die junge Patientin, mit einer
frühen Version seiner talking cure traktiert, die sich zu diesem Zeitpunkt
(1901) im klinischen Testbetrieb herausbildet. Nach dem Abbruch der Analyse
heiratet die Patientin (sie heißt Ida Bauer und ist die Schwester des
berühmten Austromarxisten Otto Bauer) einen erfolglosen Komponisten, wird
Mutter, flieht später vor den Nazis bis nach Amerika und ist der Nachwelt
unter dem Decknamen „Dora“ als eine der ersten und berühmtesten
Patientinnen Freuds bis heute bekannt.
Ihre Verstörung, deren erfolglose Therapie und ihr späteres Schicksal sind
das Sujet zahlreicher wissenschaftlicher Monografien, aber auch einiger
literarischer Nacherzählungen geworden. Die Bedeutung des „Falls Dora“ für
die Geschichte der Psychoanalyse liegt darin, dass Freud in seiner
Fallschilderung „Bruchstück einer Hysterie-Analyse“ zum ersten Mal
klinische Konsequenzen aus seiner ein Jahr zuvor erschienenen
„Traumdeutung“ zieht und das Konzept von Übertragung und Gegenübertragung
entwickelt. Dagegen haben sich die zahlreichen literarischen Bearbeitungen
der Geschichte Ida Bauers inspirieren lassen von dem
tragisch-novellistischen Konflikt einer intelligenten und vitalen jungen
Frau mit den patriarchalischen Lebensverhältnissen des späten
Habsburgerreichs, in denen weibliche Intelligenz und Vitalität mit
soziologischer Zwangsläufigkeit nur als hysterische Symptome wahrgenommen
werden konnten.
„Ida“, der jetzt erschienene Debütroman der 1980 geborenen Autorin
Katharina Adler, unterscheidet sich von literarischen Bearbeitungen
beispielsweise Sheila Kohlers oder Lidia Yuknavitchs durch einen
spektakulären familiären Umstand: Adler ist die Urenkelin von Sigmund
Freuds „Dora“.
Freud, der seine Fallbeschreibungen als „psychoanalytische Novellen“
bezeichnet hat, war sich der Nähe der psychoanalytischen zu literarischen
Methoden bewusst. Er war ein großer Erzähler. Der allerdings gar keiner
sein wollte, sondern um seines ärztlichen und wissenschaftlichen Auftrags
willen einer sein zu müssen glaubte, weil nur „eine eingehende Darstellung
der seelischen Vorgänge, wie man sie vom Dichter zu erhalten gewohnt ist,
mir gestattet, […] eine Art von Einsicht in den Hergang einer Hysterie zu
gewinnen“.
In seiner psychoanalytischen Novelle über Ida Bauer, dem erwähnten
„Bruchstück“, findet sich eine bemerkenswerte Einsicht über den Unterschi…
zwischen literarischer fiction und psychoanalytischer literary non-fiction.
Freud schreibt: „Das Element, auf das ich jetzt hinweisen werde, kann den
schönen, poesiegerechten Konflikt, den wir bei Dora annehmen dürfen, nur
trüben und verwischen; es fiele mit Recht der Zensur des Dichters, der ja
auch vereinfacht und abstrahiert, wo er als Psychologe auftritt, zum Opfer.
In der Wirklichkeit aber, die ich hier zu schildern bemüht bin, ist die
Komplikation der Motive, die Häufung und Zusammensetzung seelischer
Regungen, kurz die Überdeterminierung Regel.“
Die Überdeterminiertheit der Realität, der non-fiction gerecht werden muss,
ist das eine. Wichtiger aber vielleicht noch ist der bei genauerem
Nachdenken sehr folgenreiche Umstand, dass man über fiktionale Verhältnisse
und über „Buchpersonen“ (Giwi Margwelaschwili) nur das zuverlässig aussag…
kann, was die Autoren uns Lesern über sie mitteilen.
Über Hamlets rätselhafte Motive beispielsweise kann man spekulieren. Aber
man kann sie nicht durch Auswertung verschiedener Zeugenaussagen und
historische Quellenkritik wissenschaftlich untersuchen und vielleicht etwas
über sie herausbringen, was Shakespeare nicht gewusst hat.
An diesem Unterschied zwischen fiktionaler und nichtfiktionaler Literatur
kann man herausarbeiten, warum es interessant ist, was Katharina Adler mit
dem Lebensroman ihrer Urgroßmutter gemacht hat. Erstens nämlich hat sie
Freuds Patientin das Leben nach ihrer abgebrochenen Psychoanalyse
zurückgegeben: Sie beschreibt Ida/Doras politische Aktivität in der
österreichischen Sozialdemokratie, in den bürgerkriegsartigen
„Februarkämpfen“ des Jahres 1934, das enge Verhältnis zu ihrem Bruder, die
Beziehungen zu ihrem Mann und ihrem Sohn, den „Anschluss“ und die
Faschisierung Österreichs, den Verlust des Vermögens, das Exil und das
Leben in Amerika.
Sie beschreibt eine Frau, die nie wirklich verstanden und anerkannt wurde
und die nach dem Erlebnis sexuellen Missbrauchs als 14-jähriges Mädchen nur
in einer sehr gebrochenen Form ins Leben zurückfand. Sie beschreibt – in
einer einfachen und schönen Sprache, erzähltechnisch gediegen, menschlich
berührend – ein Mädchen, dessen Trauma nicht vernarben kann und durch
Sigmund Freuds Deutungen und Interventionen nur schmerzhafter und
schließlich unheilbar geworden ist.
Katharina Adlers romanartige Fiktionalisierung der realen Lebensgeschichte
ihrer Urgroßmutter ist damit angelegt als Widerlegung jenes viel
berühmteren, nichtfiktionalen Texts, eben Freuds „Bruchstücks einer
Hysterie-Analyse“. Widerlegt wird die wissenschaftliche Erzählung durch ein
fiktionales Verfahren: nämlich durch die Allwissenheit der Erzählerin, die
uns von Tag zu Tag mitteilt, was die inneren Erlebnisse Ida/Doras in den
Analysestunden bei Freud und überhaupt in ihrem Leben gewesen sind.
Die „Komplikation der Motive, die Häufung und Zusammensetzung seelischer
Regungen, kurz die Überdeterminierung“, von der Freud in seiner
psychoanalytischen Novelle schreibt, ist im Roman „vereinfach und
abstrahiert“ – festgelegt nämlich auf den „poesiegerechten Konflikt“
zwischen lebendigem Lebensleid und fühlloser Wissenschaft. Bei Katharina
Adler ist die Psychoanalyse tatsächlich, wie Karl Kraus schrieb, die
Krankheit, für deren Heilung sie sich hält.
Gerade den „Fall Dora“ kann man heute mit einigem Recht so sehen. Es ist
offensichtlich, dass Freud Vorgänge, die wir heute zu Recht als sexuellen
Übergriff eines älteren Mannes interpretieren, ohne große Empathie als
Belegmaterial für das sich herausbildende Gerüst seiner Neurosentheorie und
Traumdeutung verarbeitet hat. Zu diesem Urteil kann man durch
nichtfiktionale Verfahren kommen – durch den sozusagen quellenkritischen
Abgleich der Leserempathie mit den Urteilen eines in den frauenfeindlichen
Vorurteilen seiner Zeit befangenen, aber zugleich genialen
Wissenschaftler-Schriftstellers, der sich auf der Höhe seiner literarischen
Möglichkeiten befindet und einer großen und folgenreichen Theorie auf der
Spur ist (die zwar nicht Ida/Dora, aber danach vielen anderen Menschen sehr
geholfen hat).
Katharina Adler, die einen Roman schreibt, macht dasselbe Urteil, das man
als Freud-Leser quellenkritisch herausarbeiten kann, poetisch plausibel
durch den fiktionalen Einblick in das Innenleben einer Person, die zwar
wirklich existiert hat, aber uns Lesern nur unter den Bedingungen einer
„Zensur des Dichters“ zugänglich ist. Freud und Adler parallel zu lesen
bietet die einmalige Möglichkeit, den Unterschied zweier Aggregatszustände
des Literarischen auf beiderseits hohem Niveau zu studieren.
Katharina Adler: „Ida“. Rowohlt, Reinbek 2018, 512 Seiten, 25 Euro
21 Jul 2018
## AUTOREN
Stephan Wackwitz
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