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# taz.de -- Ausnahmezustand in der Türkei endet: „Wir haben schleichend verl…
> Die Türkei habe sich nicht über Nacht in ein autoritäres Regime
> verwandelt, sagt Verfassungsrechtler Murat Sevinç. Parlament und Wähler
> trugen dazu bei.
Bild: „Der Übergang zum Ein-Mann-Regime ist vollzogen“, sagt Verfassungsre…
Der Verfassungsrechtler Murat Sevinç lehrte bis Anfang 2017 an der
Universität Ankara. Im Februar 2017 wurde er mit Hunderten weiteren
Akedemiker*innen per Notstandsdekret vom Dienst suspendiert. Wir sprachen
mit ihm über die jüngsten Dekrete und über das neue politische System der
Türkei, das mit den Wahlen vom 24. Juni in Kraft getreten ist.
taz.gazete: Heute endet in der Türkei der Ausnahmezustand. Was ändert sich?
Murat Sevinç: Ich denke nicht, dass die Türkei ab morgen eine andere sein
wird. Denn es gibt ein neues Gesetzesänderungspaket, über das seit einer
Weile gesprochen wird. Es ist vorgesehen, dass mit diesen Änderungen manche
Befugnisse aus dem Ausnahmezustand in den Normalzustand übertragen werden.
Rechtlich endet der Ausnahmezustand also, aber de facto geht er weiter.
Die Frage sollte lauten: Welche Befugnisse hatte die Regierung im
Ausnahmezustand, die sie nun nicht mehr hat? Die Antwort ist: Es gibt
keinen Unterschied, wenn die Gesetzesänderung durchkommt. Öffentliche
Einrichtungen bekommen zum Beispiel für drei Jahre die Befugnis, Beamte zu
suspendieren, wenn der Gesetzesänderung zugestimmt wird. Das bedeutet, dass
alle Beamten und Akademiker drei Jahre lang unter dem ständigen Risiko
arbeiten müssen, entlassen zu werden.
Herr Sevinc, sind mit den neuen Dekreten in der Türkei die demokratischen
Errungenschaften von 95 Jahren Geschichte der türkischen Republik über
Nacht verloren gegangen?
Ja und nein. Es stimmt, dass wir vieles von selbst aufgegeben haben. Manche
Errungenschaften gingen in den letzten zehn Jahren schleichend verloren,
andere ganz plötzlich.
Was meinen Sie mit „selbst aufgegeben“?
Alles, was die Regierung an der Verfassung ändern wollte, hat sie der
Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt: Zuerst im Referendum 2007, dann bei
den Volksentscheiden 2010 und 2017. Die Wähler stimmten den Änderungen
mehrheitlich zu. Das Regime in der Türkei wurde also per Mehrheitsvotum
geändert. Im Grunde bekommt Erdoğan durch die neuen Dekrete gar nicht mehr
Befugnisse. Sie machen nur sichtbar, was er bereits vorher durfte.
Neben der Bevölkerung stimmte auch das Parlament eifrig den Änderungen zu,
die seine eigene Macht beschneiden. Premierminister Binali Yıldırım
unterstützte die Verfassungsänderungen geradezu euphorisch, auch die, mit
der sein eigenes Amt abgeschafft wurde. Das geschah nicht über Nacht, es
ist ein Prozess, der im Laufe von gut zehn Jahren offen vor unseren Augen
vorangetrieben wurde.
Wie lässt sich das neue System in der Türkei beschreiben?
Da gibt es nicht viel zu diskutieren. Der Übergang zum Ein-Mann-Regime ist
vollzogen. Und dabei ist es egal, wer Präsident ist. Die im letzten
Referendum bestätigte Verfassungsänderung wurde nicht eingeführt, um
systemimmanente Probleme zu lösen, sondern um die Wünsche einer einzigen
Person umzusetzen. Vorausgesetzt, der Präsident und die Mehrheit im
Parlament sind sich in der politischen Richtung einig, gibt es in der neu
geschaffenen Struktur nichts mehr, was der Präsident nicht machen könnte.
Und wenn sie sich nicht einig sind?
Dann dürfte das System schnell in einer Sackgasse stecken. Erdoğan hat
nicht damit gerechnet, dass er die Mehrheit im Parlament verlieren und
somit gezwungen sein würde, Allianzen zu bilden. Das System, das uns jetzt
erwartet, heißt „Unregierbarkeit“.
Was bedeutet das konkret?
Die Regierung hat nicht das Ziel, Kompromisse mit der Opposition zu finden.
Das bedeutet eine andauernde Spannung und Instabilität. In der aktuellen
Verfassung gibt es keine Checks und Balances wie etwa im Präsidialsystem
der USA. Zwar kann laut Verfassung das Verfassungsgericht die Dekrete des
Staatspräsidenten einer Untersuchung unterziehen. Doch wir sprechen von
einem Gericht, dessen Richter praktisch vollständig vom Präsidenten
bestimmt werden. Deshalb wird dieses System entweder zur
„Ein-Mann-Herrschaft“ oder in die Sackgasse führen.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe und Elisabeth Kimmerle
18 Jul 2018
## AUTOREN
Tunca Öğreten
## TAGS
taz.gazete
Politik
Menschenrechte
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