# taz.de -- Das Ziel heißt Identitätslosigkeit | |
> Die türkische Künstlerin Ezgi Kılınçaslan hat an der UdK bei Katharina | |
> Sieverding studiert. Bei „48 Stunden Neukölln“ sind zwei ihrer Arbeiten | |
> zu sehen | |
Bild: Ezgi Kılınçaslans Kamera kommt den Ölringkämpfern in der westlichen … | |
Von Hülya Gürler | |
Es gibt viele Gründe für Künstlerinnen, in Berlin zu leben. „Ich wollte in | |
aller Ruhe kritische Fragen stellen dürfen: Warum ist etwas schön, warum | |
häßlich?“ Ezgi Kılınçaslan entschied sich am Ende ihres Studiums an der | |
Universität der Künste 2009 vor allem aus diesem Grund gegen ihr Umfeld in | |
der Istanbuler Kunstszene und für Berlin. Kunst ist für die 45-Jährige | |
immer politisch, Video und Foto Medien zur Reflexion über Identität, der | |
eigenen wie der der anderen. Damit steht Kılınçaslan ganz in der Tradition | |
ihrer Lehrmeisterin, der Kunstprofessorin und Fotografin Katharina | |
Sieverding, die sich großformatig in Fotoserien und Videos in Szene setzt. | |
Vom Politischen will Kılınçaslan auch den Tod nicht verschonen. Nach Jahren | |
der Beschäftigung mit Video und Foto kehrt sie derzeit zurück zur Malerei | |
und nimmt bis Sonntag am Kunstfestival „48 Stunden Neukölln“ teil. Zusammen | |
mit anderen stellt sie bis 27. Juli zwei Bilder im Apartment Project in der | |
Hertzbergstraße aus. Die Ausstellung heißt „situational dictionary NOW“, | |
ist Teil des Festivals, aber noch länger, nämlich bis 27. Juli zu sehen. | |
Gegenstand ihrer Reflexion in einem der Bilder ist wieder mal Identität – | |
genauer: Deren Übergang vom Leben in sein ultimatives Anderes, den Tod. | |
Kılınçaslan malt eine auf Asphalt zerdrückte tote Ratte und will dem toten | |
Körper damit ihre Würde zurückgeben. „Du denkst, da ist etwas, und zugleich | |
ist da nichts“, erklärt sie im Atelier, das sie mit einem Freund teilt. | |
Dabei zeigt sie auf einen länglichen braunen Fleck auf einer Leinwand in | |
grauer Farbumgebung. | |
Mit dem Tod befasste sich Kılınçaslan früher schon an anderer Stelle. So | |
erzählt sie über ihre schicksalhafte Begegnung mit der damals 90-jährigen | |
Elizabeth Kececian. Als Kececian im Jahr 1919 ein Jahr alt ist, flieht ihre | |
Familie aus der südanatolischen Stadt Adana nach Tripolis, um den | |
Kriegswirren in der Region zu entkommen. In Tripolis findet die Familie | |
eine neue Heimat. Kılınçaslan besucht dort 2008 ein Fotoworkshop. „Meine | |
Begegnung mit Elizabeth war wie Magie. Ich fühlte mich zu einem belanglosen | |
Plakat in einem Friseurladen hingezogen. In der Nacht ging ich dort hin, um | |
es zu fotografieren, und da stand die alte Frau.“ | |
Beide sprechen Türkisch und verstehen sich auf Anhieb. Kececian wird später | |
so etwas wie eine Großmutter für Kılınçaslan. Immer wieder sucht die junge | |
Künstlerin die alte Dame in ihrer Wohnung auf. 2011 produziert Kılınçaslan | |
ein knapp halbstündiges Video über die persönliche Begegnung mit Kececian, | |
die „unmöglich viel fluchte und zugleich unglaublich lebenslustig war“, wie | |
sie sich heute erinnert. Im selben Jahr trifft sie Vorbereitungen, um | |
Kececians größten Traum zu erfüllen, eine Reise nach Istanbul. | |
Der heute inhaftierte Kunstmäzen Osman Kavala greift ihr finanziell unter | |
die Arme. Dann aber kommt die furchtbare Nachricht. „Ich wollte es nicht | |
wahrhaben, als mir jemand von ihrem Tod erzählte.“ In der eigenen Wohnung | |
von einem ihr bekannten Mann vergewaltigt und erwürgt, nimmt das Leben der | |
Dame, deren Eltern den Genozid an den Armeniern überlebt haben, mit 93 | |
Jahren ein tragisches Ende. Parallel zu ihren Besuchen in Tripolis macht | |
sich Kılınçaslan auf den Weg, um mit Nachkommen von Überlebenden in Beirut | |
und Paris zu sprechen. | |
Das Ergebnis ist eine große Menge Filmmaterial, auf dem 37 Personen zu Wort | |
kommen und das die Künstlerin wegen fehlender Mittel nur reduziert | |
einsetzen kann. Gezeigt wurden Teile davon in Istanbul, Ankara, Köln und | |
zum 100-jährigen Gedenken des Genozids an den Armeniern im Berliner | |
Gorki-Theater. Die acht Jahre dauernde Arbeit hat Kılınçaslan verändert, | |
sagt sie. Die Auseinandersetzung mit dem Massentod „hat mir als Künstlerin | |
Tiefe verliehen und meinen Ehrgeiz verstärkt.“ | |
Politischer Aktivismus ist in Ezgi Kılınçaslans Familie angelegt. An die | |
prägende Zeit der Militärjunta in der Türkei nach 1980 kann sie sich sehr | |
gut erinnern. Sie ist sieben, als im Mai 1981 Polizisten den Vater, einen | |
politisch aktiven Lehrer, verhaften. Fünf Jahre sitzt er im Gefängnis. „Das | |
hat dazu geführt, dass ich apathisch und apolitisch geworden bin“, gesteht | |
Kılınçaslan in der teilweise mit sehr intimen Fotos produzierten | |
Videocollage „Berlun“ (Berlin) von 2008. | |
## Denken braucht Zeit | |
Die Politik kehrt mit „Berlun“ aber zugleich in ihre Kunst zurück. In dem | |
sechseinhalb-minütigen Video reflektiert sie über ihr Lieblingsthema | |
Identität als Frau, als Türkin und als Migrantin in Berlin. In Deutschland | |
wird von ihr erwartet, sich ständig selbstkritisch mit ihrer türkischen | |
Herkunft, mit dem Islam und mit ihrem Status in Deutschland | |
auseinanderzusetzen. Kılınçaslan hat sich aber ein ehrgeiziges Ziel in den | |
Kopf gesetzt: „Ich strebe Identitätslosigkeit an.“ Die Zugehörigkeit zu | |
einer Nation, zu einer Religion oder zu einem kulturellen Geschlecht | |
sollten belanglos werden. Nur so könne man sich von Mensch zu Mensch | |
begegnen, glaubt die Künstlerin. Und weil kritisches Denken Zeit brauche, | |
produziere sie keine Massen von Kunstwerken. | |
Kılınçaslan ist Mitglied in der linken Partei HDP, deren Vorsitzender | |
Selahattin Demirtaş derzeit vom Gefängnis aus Wahlkampf um das Amt des | |
türkischen Präsidenten betreibt. Ihr Leben bestreitet die Künstlerin über | |
die Arbeit mit Schulkindern, mit denen sie kocht oder T-Shirts bemalt. | |
Zwischendurch wagt sie sich mit der Kamera an Orte, die nur für Männer | |
vorbehalten sind, so zum Beispiel ab 2007 hin und wieder auf die | |
Ölringkampf-Arena in Kırkpınar im europäischen Teil der Türkei. | |
An die Ölringkämpfer rückt sie dabei sehr nahe mit der Kamera heran, auf | |
einem der Bilder für den unbeteiligten Betrachter sogar vielleicht zu nahe: | |
Ein junger Ringkämpfer schaut direkt in Kılınçaslans Kamera, während er auf | |
dem Schoß seines Kameraden liegend ungeniert mit seinem Geschlechtsteil | |
unter der öligen Lederhose spielt. „Das ist dort nichts Besonderes. Die | |
ganze Arena ist mit dem Männlichkeitsspirit aufgeladen.“ | |
War die Situation der Fotografin in dem Augenblick nicht zu viel? „Es macht | |
einen Unterschied, ob du mit der Kamera in der Arena stehst oder das Bild | |
später betrachtest.“ Sie beschäftigt sich vor allem mit den menschlichen | |
und also verletzlichen Seiten der Ringkämpfer, ganz besonders mit den | |
Besiegten unter ihnen, denen eine Niederlage die Chance zum Nachdenken über | |
das Leben gibt. | |
23 Jun 2018 | |
## AUTOREN | |
Hülya Gürler | |
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