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# taz.de -- Jörg Sundermeier Berlin auf Blättern: Als der große Bahnhof für…
König müsste man sein! Wilhelm I., der spätere deutsche Kaiser, ließ sich
1861 in Königsberg krönen und fuhr anschließend zurück nach Berlin. Dort
beschloss man, dass der König, mit einem Sonderzug von Frankfurt/Oder her
kommend, eigens zu diesem Tag am Frankfurter Tor anlangen sollte, und baute
extra für dieses Ereignis eine eigene, fast zweieinhalb Kilometer lange
Bahnstrecke samt Empfangsgebäude, auf letzterem war der Schriftzug
„Willkommen dem gekrönten Königspaar“ zu lesen. Dort traf am 22. Oktober,
nach einer Stunde und 35 Minuten Fahrt der König mit seinem Salonwagen ein,
ließ sich bejubeln, um dann gleich zu weiteren Feierlichkeiten
aufzubrechen.
Die mit viel Schweiß in wenigen Wochen errichtete Teilbahnstrecke, für die
einige Grundbesitzer ihren Boden überlassen mussten, wurde danach nie mehr
benutzt und bald abgetragen. Ebenso erging es dem Empfangsgebäude. Erst ab
1907 verkehrte wieder ein Schienenfahrzeug auf einem Teilstück der Trasse,
nämlich die Tram – heute ist es die Linie 21.
Diese Geschichte ist nur eine von vielen, die das prächtige (und angesichts
seiner Ausstattung sensationell günstige) Buch „Mythos Ostkreuz: Die
Geschichte des legendären Berliner Eisenbahnknotens. 1842 bis heute“
erzählt. Sven Heinemann, Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin, und
der bekannte Eisenbahnfotograf Burkhard Wollny haben das Buch verfasst, das
sich an Eisenbahnfreund*innen genauso richtet, wie an jene, die mit dem
Bahnhof etwas verbinden können.
Sie zeigen, wie aus der 1842 an der kleinen Siedlung Boxhagen, vor den
Toren Berlins, errichteten Station Rummelsburg der 1881 eingeweihte Bahnhof
Stralau-Rummelsburg wurde, der heute unter dem Namen Ostkreuz ein Begriff
ist. Unterstützt von viel historischem Bildmaterial, das nicht nur aus dem
Archiv von Burkhard Wollny stammt, und vielen Bau- und Gleisplänen erzählen
sie mit großer Lust die Geschichte dieses Eisenbahnknotens.
So etwa die Geschichte des zu Filmruhm gekommenen Bahnsteigs A an der
Südkurve, der 127 Jahre in Dauerbetrieb stand und bis zu seiner Schließung
im Jahr 2009 beinahe noch genauso aussah, wie ihn die Berliner des
Kaiserreichs hatten erblicken können. Leider ist der Bahnsteig dem Neubau
des Bahnhofs zum Opfer gefallen (und ein Ersatz ist nicht geplant),
immerhin aber durften der Wasserturm und die Fußgängerbrücke überleben,
letzterer wurde sogar von Grund auf saniert. Von dem angrenzenden
Güterbahnhof, dem schon lang geschlossenen „Gänsebahnhof“, ist jede Spur
verschwunden.
Wollny und Heinemann widmen sich aber nicht nur der Geschichte des
Bahnhofes und seiner unmittelbaren Umgebung, sondern auch den umliegenden
Bahnanlagen – und berichten über den Bahnhof Warschauer Straße (und
anliegendem RAW), den Bahnhof Frankfurter Allee, die kurze Strecke zum
Osthafen, den ebenfalls verschwundenen Wriezener Bahnhof (auf den heute nur
noch eine Straße unweit des Franz-Mehring-Platzes verweist) oder auch den
alten Ostbahnhof am Küstriner Platz, der nicht mit dem heutigen Ostbahnhof
zu verwechseln ist, und ungefähr dort zu finden war, wo heute das
Redaktionsgebäude des Neuen Deutschlands steht. Das Gebäude empfing ab 1867
für nur rund 15 Jahre Fahrgäste, danach wurde es mehrfach umgebaut, und bot
schließlich als Varieté „Plaza“ ab 1929 rund 3.000 Gästen diverse
Vergnügungen. So vermittelt das Buch auch die Vorgeschichte jener Ecke,
deren Ruf heute einzig durch das Berghain geprägt wird.
Das Buch „Mythos Ostkreuz“ bietet all diese Fakten in unterhaltsamer Form,
ein stadt- oder eisenbahngeschichtliches Vorwissen braucht es nicht. Selbst
Kenner*innen werden an einigen Stellen des Buches ihr Erstaunen nicht
verhehlen können.
Sven Heinemann, Burkhard Wollny:Mythos Ostkreuz. Die Geschichte des
legendären Berliner Eisenbahnknotens. 1842 bis heute. Klartext Verlag,
Essen 2018, 272 Seiten, 39,95 Euro
15 Jun 2018
## AUTOREN
Jörg Sundermeier
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