# taz.de -- Deutsch-türkisches Seniorentheater: Selbstironischer Blick auf das… | |
> Die SchauspielerInnen des Theaters der Erfahrungen sind zwischen 60 und | |
> 90. Mit ihrem deutsch-türkischen Musical bringen sie das Älterwerden auf | |
> die Bühne. | |
Bild: Die Mozartkugel tanzt mit der Erdbeertorte | |
Der Kuss ist noch ein wenig ungelenk. Öpücük, das ist für einige der | |
SchauspielerInnen vom deutsch-türkischen Theater der Erfahrungen ein | |
Zungenbrecher. Die SeniorInnen des Altentheaters stehen im Halbkreis um das | |
Klavier und üben den türkischen Refrain ihres Musicals „Altes Eisen“ ein. | |
Eigentlich sitzt der Text, doch über das Wort „öpücük“ stolpern sie. Die | |
türkischsprachigen KollegInnen sprechen es ihnen geduldig vor: ö-pü-cük. An | |
diesem Tag Mitte Mai findet im Proberaum des Nachbarschaftsheims Schöneberg | |
in Berlin die letzte Durchlaufprobe statt, eine Woche später führen die | |
LaiendarstellerInnen ihr deutsch-türkisches Musical in der Berliner | |
ufa-Fabrik auf. | |
Gegründet wurde das Theater der Erfahrungen 1980 von den angehenden | |
Theaterpädagoginnen Eva Bittner und Johanna Kaiser. Das Seniorentheater | |
steht in der Tradition der Anfang der achtziger Jahre starken Bewegung des | |
freien politischen Theaters. „Die Idee dahinter war, die vielen Erfahrungen | |
von alten Menschen auf die Bühne zu holen. In normalen Theatern wurden | |
Themen verhandelt, die die breite Bevölkerung nicht interessieren“, sagt | |
Johanna Kaiser, die Professorin für Soziale Kulturarbeit mit dem | |
Schwerpunkt Theater an der Alice Salomon Hochschule in Berlin ist. | |
Dem wollten die beiden damaligen Studentinnen ein kritisches Volkstheater | |
entgegenstellen, das die Alltagserfahrungen von alten Menschen auf die | |
Bühne bringt. Über die Kulturarbeit wollten sie ein Forum der Begegnung für | |
SeniorInnen schaffen. Denn, so Kaiser, es gebe zu wenig Anlässe, wo | |
Menschen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen zusammenkommen. Sie | |
gründeten mehrere Gruppen und organisierten mit den „Spätzündern“, | |
„OstSchwung“ und den „Grauen Zellen“ Projekte mit Grundschülern, | |
Jugendlichen und Kindern mit Fluchterfahrung. | |
Mit den Jahren öffnet sich das Theater der Erfahrungen verschiedenen | |
Generationen und transkulturell. Warum nicht Menschen aus der gleichen | |
Generation einladen, die vor Jahrzehnten als GastarbeiterInnen nach | |
Deutschland gekommen sind? 2005 werden aus den „Grauen Zellen“ die „Bunten | |
Zellen“; die Besetzung ist nun deutsch-türkisch und die Texte werden es | |
auch. Am 7. Juni veranstaltet das Theater der Erfahrungen in Kooperation | |
mit der Alice Salomon Hochschule einen [1][Fachtag zu Transkulturalität] in | |
der Berliner ufaFabrik, um die Potentiale und Problemzonen von | |
transkultureller Theaterarbeit aufzuzeigen. | |
## Singende Mozartkugeln | |
Zum 30-jährigen Jubiläum im Jahr 2010 entwickelt das Theater der | |
Erfahrungen mit allen drei Gruppen ein zweisprachiges Musical. Die | |
SpielerInnen schreiben und entwickeln das Stück auf den eigenen Erfahrungen | |
basierend selbst. 40 DarstellerInnen zwischen 60 und 90 Jahren arbeiten mit | |
den Regisseurinnen Eva Bittner und Johanna Kaiser eineinhalb Jahre an dem | |
Stück. | |
Das Musical wirft einen selbstironischen Blick auf das Alter. Es | |
thematisiert, mal sarkastisch, mal schrullig, körperliche Gebrechen und das | |
Unsichtbarwerden im Alter, die Suche nach Ersatzteilen für nicht mehr | |
funktionierende Gelenke und Alltagsrassismus. Eingebettet sind die | |
szenischen Erfahrungen der SeniorInnen in die Liebesgeschichte zwischen dem | |
Bäcker Hikmet und seiner Nachbarin, die von singenden Mozartkugeln, | |
Erdbeertorten und Baklava begleitet wird. Seit 2010 wird „Altes Eisen“ | |
jedes Jahr aufgeführt und war 30 Mal ausverkauft. | |
Der heutige Probentag begann traurig. Eine der SchauspielerInnen ist am Tag | |
zuvor gestorben, ein Foto von ihr steht auf dem Tisch im Probenraum. „Der | |
Tod gehört dazu“, sagt Johanna Kaiser. Die Belegschaft hat sich in den acht | |
Jahren, die das Theater der Erfahrungen das Musical aufführt, geändert. | |
Einige DarstellerInnen sind gestorben, andere wurden krank und konnten | |
nicht weiterspielen. Von den Anfangstagen im Jahr 1980 ist niemand | |
geblieben. Doch manche machen seit 25 Jahren mit, eine Schauspielerin ist | |
sogar seit 30 Jahren dabei. | |
Zur Durchlaufprobe haben sich nur ein paar SpielerInnen ihr Mozartkugel- | |
Baklava- und Erdbeertortenkostüm übergezogen, die anderen spielen in Jeans | |
und T-Shirt, weil der Kostümwechsel zu lange dauern würde. Beim türkischen | |
Refrain verpassen sie einen Einsatz, doch beim zweiten Mal sitzt auch der | |
Kuss. | |
25 May 2018 | |
## LINKS | |
[1] https://theater-der-erfahrungen.nbhs.de/aktuelles-aus-der-werkstatt/fachtag… | |
## AUTOREN | |
Elisabeth Kimmerle | |
## TAGS | |
taz.gazete | |
Mobbing | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Mobbing-Vorwürfe am Schauspiel Köln: Zitternde Stimmen | |
Müssen Kulturinstitutionen ernsthaft noch funktionieren wie absolutistische | |
Hofstaaten? Das Schauspiel Köln scheint ein Beispiel dafür zu sein. |