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# taz.de -- Fünf Jahre nach Gezi: Die, die nach Gezi kamen
> Die Gezi-Proteste in der Türkei weckten Hoffnungen für LGBT*. Heute leben
> viele von ihnen in Berlin – und haben mit neuen Problemen zu kämpfen.
Bild: Sitzen zwischen den Stühlen: Mert Oğuzhan und Cabot Nazlı
Cabot Nazlı* und Mert Oğuzhan* sitzen an einem Sonntag unter rosa
Kirschblütenbäumen auf der Terrasse des Südblock, einer Kneipe in
Berlin-Kreuzberg. Nazlı fährt sich mit den Händen durch das kurze Haar. Der
Laden werde von einer queeren Frau aus der Türkei mitbetrieben, sagt sie.
Wohl deshalb ist der Südblock zu einem beliebten Treff für queere Menschen
aus der Türkei geworden. Auch Mert Oğuzhan und Cabot Nazlı stammen aus
Istanbul. Als LGBT*-Aktivist*innen waren sie 2013 bei den Gezi-Protesten
aktiv. Heute leben sie in Berlin.
Ihre Migrationsgeschichte nimmt bei Gezi ihren Ausgang. Befeuert von der
Solidarität und Energie der großen Protestwelle, fand der Istanbuler
Pride-Marsch 2013 und 2014 unter Rekordbeteiligung statt. Auch Nazlı und
Oğuzhan waren in jenen Tagen voller Hoffnung.
„Als eine Gruppe queerer Menschen in Istanbul unterwegs zu sein, war jetzt
nichts Neues für mich. Aber dass wir dort mit vielen anderen Gruppen
gemeinsam protestierten, mit Fußball-Fans etwa, das hat mich wirklich
beeindruckt“, erzählt Nazlı. So habe sie sich während dieser Wochen als
lesbische Frau auf der Straße auch viel sicherer gefühlt als sonst.
Oğuzhan berichtet, er sei mit der Regenbogenfahne durch den Gezi-Park
gelaufen. Einmal habe ihn ein älterer Mann gefragt, was das für eine Fahne
sei. „Das ist die LGBT*-Fahne, Onkel, also die von Lesben, Schwulen,
Bisexuellen und trans Menschen“, antwortete Oğuzhan. Der Mann habe einen
Moment gestutzt, dann aber gesagt: „Ja klar, seid dabei, seid auch ihr
dabei, und seid ruhig lesbisch.“
In den Jahren nach Gezi, vor allem nach den Wahlen 2015 hat sich das
hoffnungsvolle Bild schlagartig gewandelt. Das erneute Aufflammen des
Kriegs im Südosten der Türkei im Sommer 2015, die Repressionen gegen jede
Form von Opposition, die Verbote von LGBT*-Aktivitäten, die Zunahme
homophober Hassdiskurse – all das führte dazu, dass Nazlı und Oğuzhan
beschlossen, ins Ausland zu gehen. Nazlı promoviert jetzt im Fachbereich
Anthropologie in Berlin und forscht zur Nutzung digitaler Medien von
LGBT*-Migrant*innen aus der Türkei. Und Oğuzhan absolviert einen
Masterstudiengang über die EU-Wirtschaftspolitik.
## Nicht nur finanzielle Hürden
Nach den Wahlen von 2015 kam es zu einer größeren Auswanderung aus der
Türkei. Laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lag die Zahl von
Asylanträgen aus der Türkei vor 2015 unter 2.000 jährlich. Allein im Jahr
2017 waren es insgesamt 8.480 Personen mit türkischem Pass, die in
Deutschland Asyl suchten. Nazlı erzählt, dass in der repressiven Phase nach
2015 viele Personen aus der LGBT*-Szene in der Türkei sich nach Berlin
aufmachten. Auch ihr erster Besuch fand über die Vermittlung von
Freund*innen statt, die sich hier niedergelassen hatten. Oğuzhan hatte sich
bei seinem Berlin-Aufenthalt als Erasmus-Student in den Kopf gesetzt,
hierherzuziehen. „Es kam mir wie das Paradies vor. Partys, Vergnügen, alles
locker. Ich habe mich gar nicht erst woanders beworben“, sagt er.
So attraktiv Berlin ist, für queere Menschen aus der Türkei ist das Leben
hier nicht einfach. Der eklatante Verfall der türkischen Lira stellt für
viele junge LGBT*-Menschen, die nach Deutschland gehen wollen, eine
zunehmend große finanzielle Hürde da. „Um ein Studierendenvisum zu
bekommen, musst du 8.000 Euro auf deinem Konto nachweisen können“, sagt
Oğuzhan. „Wir sind gezwungen, neben dem Studium zu arbeiten, das kostet
richtig Zeit. Das Geld, das ich hier bekomme, reicht nicht, ich jobbe noch
extra in der Türkei.“
Nazlı findet, das Bild, das von jungen Menschen gezeichnet wird, die in den
vergangenen Jahren nach Deutschland gekommen sind, sei einseitig. In den
deutschen Medien herrsche ein Narrativ von der „Neuen Welle“ von
Migrant*innen aus der Türkei, das sie als regierungskritisch, säkular,
längst europäisierte Mitglieder der Mittel- und Oberschicht darstelle. „Das
ist falsch“, sagt sie. „Wir gehen morgens um 4 Uhr zur Ausländerbehörde u…
stehen stundenlang in der Schlange. Und es gibt eine Menge rassistische
Queer-Organisationen, die uns nicht gerade mit offenen Armen aufnehmen. Die
weiße Gay-Community macht uns zum Fetisch, zu Exot*innen.“
Fühlen sie sich mehr der hiesigen LGBT*-Szene zugehörig oder der in der
Türkei? Nazlı wählt einen dritten Weg: „Ich fühle mich der hiesigen
Queer-Szene aus der Türkei zugehörig. In Gruppen, wo Migration und queeres
Leben aufeinandertreffen, fühle ich mich wohl. Selbst die meisten Deutschen
in meinem Leben haben etwas mit der Türkei zu tun und sprechen Türkisch.“
Oğuzhan dagegen fühlt sich stärker Berlin zugehörig. Er mag die
übergriffige Anmache in Gay-Bars in der Türkei nicht. „Die kommen weniger
zum Tanzen als zum Posen. In der Türkei herrscht Konkurrenz in der
Schwulenszene, diese Spannung gibt es hier nicht.“
Beide klagen darüber, dass die queeren Clubs in der Türkei von schwulen
Männern dominiert seien. In Berlin, sagt Oğuzhan, habe er sich gewundert,
zu sehen, dass die queere Szene aus der Türkei von Frauen geprägt ist, und
sich sehr darüber gefreut. Beide besuchen lieber Locations, wo nicht so
viele weiße Männer sind. Die Queer-Partys, bei denen sie in Berlin waren,
seien viel diverser als in der Türkei, sowohl in Bezug auf die Geschlechter
als auch hinsichtlich des Migrationshintergrunds.
Sich in der weißen LGBT*-Szene in Berlin zu engagieren, ist laut Nazlı für
queere Menschen aus der Türkei aber ziemlich kompliziert: „Bei einer Aktion
gegen Homophobie in der Sonnenallee habe ich den Slogan gehört: ‚Wem gehört
die Straße? Die Straße gehört uns!‘ Dass die Aktion in einem migrantisch
dominierten Viertel stattfand, hat bei mir sowieso schon Fragezeichen
ausgelöst. Weiße Queere brüllen arabischen Gewerbetreibenden ins Gesicht:
‚Die Straße gehört uns!‘ Ich fühle mich da instrumentalisiert, sie benut…
uns, um das auch Händlern und Gewerbetreibenden aus der Türkei zuzurufen.
Aber meine Freundin hat gesagt: ‚Gut, dass wir da waren, wäre es etwa
besser gewesen, wenn die öffentliche Sichtbarkeit allein weißen Queeren
zugekommen wäre?‘ Das finde ich auch.“
## Zwischen den Stühlen
Für Nazlı bedeutet, eine queere Person aus der Türkei zu sein, zwischen
Migrant*innen und weißen LGBT*-Menschen zu stehen. Beide Seiten können
verletzend und diskriminierend sein. Selbst wenn sie Homophobie arabischer
oder türkeistämmiger Migrant*innen erleben würde, würde sie das nicht mit
der queer-freundlichen deutschen Presse teilen wollen, sagt Nazlı. „Die
erwarten so etwas. Und sie gehen damit in ausländerfeindlichen Kreisen
hausieren. Wir sitzen also zwischen den Stühlen.“ Über alteingesessene
Migrant*innen in Berlin sagt sie: „Gut, dass sie da sind. Wir begegnen uns
hier auf andere Weise als in der Türkei.“ Trotz aller politischer
Polarisierung geben die Migrant*innen in Berlin Nazlı das Gefühl von Halt
und Vertrauen. „Hier hat es Geschichte, aus der Türkei zu sein, hier finde
ich leichter einen Platz für mich.“
Die Verbandstätigkeit, die nach Gezi in der Türkei immer schwieriger wurde,
hoffen Nazlı und Oğuzhan in der Queer-Solidarität in Berlin zu finden. Als
bekannt wurde, dass Ankara wieder einmal alle LGBT*-Aktivitäten verbietet,
kam die türkeistämmige queere Community sehr schnell zur Pressekonferenz im
Berliner Südblock zusammen. Jetzt haben sie eine Facebook-Gruppe, vor
Kurzem fand das erste Treffen statt. Nazlı meint, das sei der erste
Schritt, sich zu organisieren, weitere würden folgen: „Vielleicht sind die
Probleme der Leute, die noch in der Türkei sind, der erste Funken, der uns
zusammenbringt. Was wir hier tun, wird aber dadurch gestaltet, dass wir
Migrant*innen und queere Menschen sind.“
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
* Namen aus Sicherheitsgründen von der Redaktion geändert
30 May 2018
## AUTOREN
Burçin Tetik
## TAGS
taz.gazete
Homosexualität
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