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# taz.de -- Sich verwandt machen
> Wie geht es weiter mit dem Menschen und der Erde nach ihrer Zerstörung?
> Die radikale feministische Theoretikerin Donna Haraway erfindet das
> Chthuluzän, das Zeitalter nach dem Anthropozän, und denkt über neue
> Verwandtschaften nach
Bild: „Nichts ist mit allem verbunden, alles ist mit etwas verbunden“ – d…
Von Frederic Jage-Bowler
Als Charles Darwin im November 1859 sein Meisterwerk „Über die Entstehung
der Arten“ veröffentlichte, war seine bahnbrechende Wirkung kaum abzusehen.
Zwar wurde das Buch breit rezipiert, es war zugänglich und bemerkenswert
stilsicher in der Übersetzung komplexer Gedanken in eine bildliche Sprache.
Und doch belief sich die Gesamtauflage gedruckter Kopien bis zu Darwins
Tod 20 Jahre später auf lediglich 15.000. Zum Vergleich: Allein die
französische Erstauflage von Marx’ „Kapital“ kam auf eine ähnliche
Stückzahl.
Es verging ein halbes Jahrhundert, bis Sigmund Freud Darwins Theorie zu
einer von drei fundamentalen Kränkungen der Menschheit erklärte. Auf
Kopernikus’ kosmologischen Stich folgte der Dolch Darwins. Mithilfe eines
dritten Hiebs – der Freud’schen Psychoanalyse – sollte der Mensch endgül…
vom Thron seines Narzissmus gestoßen werden.
Dabei ging es Darwin im Kern um einen überaus simplen Gedanken: Alle
Lebensformen der Erde entstammen derselben Zelle. Wir sind Teil eines
einzigartig komplexen Gebildes, das sich Erde nennt. Wir sind miteinander
verwandt.
Von dieser Einsicht in die fundamentale Verwandtschaft der Arten handelt
„Unruhig bleiben“, das neue Buch der feministischen Theoretikerin Donna
Haraway. Darin versucht sie, den Menschen aus dem Zentrum aller
Betrachtungen zu entrücken und ihn gleichzeitig zu rekalibrieren als aktive
und schöpferische Instanz. Ein eigentlich paradoxes Projekt, könnte man
meinen, doch nur so glaubt Haraway der ökologischen Katastrophe und dem
Hang zu Zynismus und Techno-Utopismus beikommen zu können. Denn dass der
Mensch heutzutage die Darwin’sche Lektion akzeptiert habe, dass er Teil
eines unübersehbaren Systems ist, bedeute noch lange nicht den Verzicht auf
„response-ability“, also die Fähigkeit, zu reagieren und Verantwortung zu
übernehmen.
Angelehnt an Darwin, fasst Haraway den Gedanken der Verwandtschaft weit.
Als Wissenschaftshistorikerin mit Wurzeln in der Bio- und Anthropologie
kennt sie die üblichen Ausschlussmechanismen entlang der Linien Ethnie,
Klasse oder Geschlecht. Ihr 1984 veröffentlichtes „Cyborg Manifesto“ nahm
eine schwelende Debatte über Identitätspolitik vorweg und propagierte
anstelle eines mehr oder weniger strategischen Essenzialismus ein Denken
der offenen Ränder, außerhalb jeglicher Dualismen.
Seither atmen ihre Texte die Poesie des löchrigen Gewebes und wild
fuchtelnder Tentakel. Sie sind durchdrungen von Witz und der Lust an immer
neuen gedanklichen wie sprachlichen Verflechtungen. Beidem begegnet man in
der apokalyptischen Fachliteratur des Anthropozäns nur selten.
## Egoistisches Gen
In Haraways neuem Werk dominiert die Metapher des Fadenspiels, jenes
jahrtausendealten Geschicklichkeitsspiels, bei dem man mit den Fingern in
einer verknoteten Kordel Figuren formt. Das Gebilde sei sinnbildlich für
die wechselhafte Beziehung zwischen Systemen und ihrer Umwelt, daran lasse
sich auch die Redundanz überkommener Fiktionen, wie „Kultur“ und „Natur�…
veranschaulichen.
„Nichts ist mit allem verbunden, alles ist mit etwas verbunden“, lautet
Haraways Credo. Die Weigerung, innerhalb hermetischer Einheiten zu denken,
wie es die systemfunktionalen Postulate eines „egoistischen Gens“ fordern,
bringt sie in die Nähe von Netzwerktheoretikern wie Bruno Latour, an dessen
Werk sie ebenfalls nicht wenig auszusetzen hat.
Der Text selbst gliedert sich in episodische Erzählungen. Er verwebt dabei
eine Vielzahl von Perspektiven, von spekulativer Science Fiction bis zur
Veterinärethik der Gegenwart. Auch dezidiert politische Anliegen bleiben
nicht ausgespart, selbst wenn es Haraways verwinkeltem, teils ironischem
Stil eher entspricht, Politisches in ambivalente, nichtdezisionistische
Prosa zu verpacken – leider auch auf Kosten der Prägnanz, schließlich geht
es ihr um Mehrgleisigkeit.
Haraways Geschichten – von künstlichen Korallenriffen, Phytolinguisten und
wahnwitzigen Symbioten – scheinen alles gleichzeitig zu wollen: die
Wissensproduktion der Zukunft, Möglichkeiten des gemeinsamen Lebens und (!)
Sterbens auf Erden. Bei einem Thema aber, nicht zufällig ein Minenfeld der
Linken, beweist Haraway bemerkenswerte Klarheit. Es geht um die Bedrohung
des Lebens durch menschliche Überbevölkerung.
Dann greift auch sie zur Parole und ruft: „Macht Verwandte – und nicht
Babys!“
26 May 2018
## AUTOREN
Frederic Jage-Bowler
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