# taz.de -- Neuübersetzung von „Main Street“: Stadt, Land, Frau | |
> Mit „Main Street“ schrieb Sinclair Lewis 1920 einen Roman, der nun neu | |
> übersetzt wurde. In der Trump-Ära macht er wieder großen Spaß. | |
Bild: Sinclair Lewis und Dorothy Thompson im Jahr 1928 | |
Was ist bloß zwischen den Weizenfeldern los? Warum begeistern sich die | |
Menschen in den ländlichen Gebieten der USA so stark für einen sexistisch | |
und rassistisch polternden Präsidenten? Woher rührt der bange | |
Traditionalismus, der Geifer gegen alles Ungewohnte, Gebildete, Weltläufige | |
– gegen die großen Städte? | |
Dutzende Erklärungsversuche sind dazu jüngst in den USA erschienen, etwa | |
„Fremd im eigenen Land“ von der Soziologin Arlie Russell Hochschild oder | |
die „Hillbilly Elegie“ des in Ohio geborenen Autors J. D. Vance. Schon vor | |
knapp hundert Jahren hat ein anderer ganz ähnliche Fragen gestellt: | |
Sinclair Lewis (1885–1951), Zeitgenosse von Faulkner, Wilder, Fitzgerald, | |
ein milder Satiriker und leidenschaftlicher „Muckraker“ – „Staubaufwirb… | |
– des US-amerikanischen Selbstverständnisses. | |
Für seinen Roman „Babbitt“, das Psychogramm eines Kleinstadtmaklers, | |
erhielt er 1930 als erster Amerikaner den Literaturnobelpreis. Wie packend | |
sein Röntgenblick bis heute ist, zeigt sich an der aktuellen | |
Sinclair-Lewis-Wiederentdeckungswelle. Zuletzt machte sein Roman „It can’t | |
happen here“ („Das ist bei uns nicht möglich“) von 1935 wieder die Runde: | |
Ein populistischer Politquereinsteiger, der Donald Trump verblüffend | |
ähnelt, installiert darin eine US-Variante des Faschismus. Nun ist auch | |
„Main Street“ neu erschienen, im Manesse Verlag, brillant übersetzt von | |
Christa E. Seibicke – ein üppiges Gesellschaftspanorama aus dem „konfusen | |
Imperium, das man den amerikanischen Mittelwesten nennt“ (Lewis), wo | |
„Ortschaften, so planlos in die Landschaft gestellt sind wie auf einem | |
Dachboden verstreute Pappkartons“. | |
Die „Main Street“ führt durch die fiktive 3.000-Seelen-Gemeinde Gopher | |
Prairie. Backsteinläden, Getreidesilos, argwöhnische Blicke, die „mit | |
Fliegendreck gesprenkelten Fenster“ des einzigen Hotels am Ort – ist man | |
das Sträßchen einmal auf und ab spaziert, hat man gleich „noch zehntausend | |
andere Städtchen von Albany bis hinunter nach San Diego“ kennengelernt, | |
schreibt Lewis, der selbst in einer vergleichbaren Ortschaft namens Sauk | |
Centre aufwuchs. | |
Weltläufigkeit und Provinzialität treffen an der „Main Street“ als | |
Liebespaar aufeinander. Da ist der Landarzt Will Kennicott, um die 40, | |
ledig, ein netter Kerl, der gern in Gopher Prairie lebt: „Dort habe ich das | |
Gefühl, dass ich mitbestimmen kann. In einer Großstadt mit zwei-, | |
dreihunderttausend Einwohnern dagegen, also da wär ich doch bloß eine | |
weitere Laus im Pelz, eine von vielen Tausend.“ | |
## Im „Kaff“ herrscht „Aristokratie“ | |
Und da ist die junge, attraktive Carol Milford, Bibliothekarin aus | |
Minneapolis, die einen „Geschirrspül“-Alltag ablehnt. Als Studentin | |
schwebte ihr Größeres vor, Jura, Drehbücher schreiben. „Und dann wurde | |
Soziologie ihr Lieblingsfach“, schreibt Lewis trocken und pflanzt damit die | |
Wurzel allen Ärgers in den Roman. | |
Tatsächlich war die Soziologie in jenen Tagen noch eine recht junge | |
Wissenschaft – und Lewis ihr Fan. Sie bot einen neuen, ungeschönten, | |
modernen Blick auf die Welt. Damals erblühte gerade die sozialkritische | |
Lehre der Chicago School, und ebendort, im Chicago der späten 1910er Jahre, | |
lässt der Autor seine Romanheldin Häppchen von Sigmund Freud und dem | |
Syndikalismus aufschnappen, von internationalen Arbeiterkämpfen und dem | |
Prinzip „Harem contra Feminismus“. | |
Die „nervlich radioaktive“ Carol und der gemütliche Will werden also ein | |
(ungleiches) Paar: „Was sie zusammenführte, war halb Biologie, halb | |
Mysterium; in ihren Gesprächen blitzte unter Allerweltsfloskeln bisweilen | |
ein Funke Poesie auf.“ Carol zieht in Wills „Kaff“, im festen Willen, Kun… | |
und Kultur, Fortschritt und Freiheit dorthin zu bringen. Und so nehmen die | |
Enttäuschungen, Verdächtigungen und Verletzungen ihren unerbittlichen Lauf. | |
Denn im „Kaff“ herrscht eine „Aristokratie“ aus Familiengeflechten, die | |
Haydock, Dawson oder Clark heißen: Provinzbosse, Bodenspekulanten, | |
Kleingeister, deren horrorhafte „Matronen“ und stumpfe Kinder. Die „Grand | |
Old Party“ der Republikaner gilt als „Werkzeug des Herrn“, Sozialisten | |
gehören aufgehängt, heftig wird gegen alles Fremde und nach unten getreten: | |
gegen umherziehende Wanderarbeiter, alleinstehende Frauen, verarmte | |
skandinavische Immigranten („rote Schweden“) und Deutsche, die im Ort | |
bekannt sind für mangelnde Manieren und herben Körpergeruch. | |
## Wie eine episch ausufernde Netflix-Serie | |
Carols Versuche, sich in diese engherzige, sich selbst bespitzelnde | |
Gesellschaft einzufügen und gleichzeitig für „frischen Wind“ zu sorgen, m… | |
Lesekreisen oder Theatergruppen, scheitern. Schnell durchschaut sie die | |
Hackordnung: „Zu mir werden sie freundlich sein, weil mein Mann zu ihrem | |
Stamm gehört. Aber gnade mir Gott, wenn ich eine Außenseiterin wäre!“ | |
Über gut 900 Seiten erstrecken sich die Dramen entlang der „Main Street“. | |
Die Lektüre kann großes Vergnügen bereiten – etwa wie eine episch | |
ausufernde Netflix-Serie, die so detailgenau und „lebensecht“ gemacht ist, | |
dass man trotz Überlänge dran bleibt. Lewis bemüht sich um Verständnis für | |
seine Figuren, sogar für diejenigen, die dem ländlichen „Spießervirus“ | |
vollends erlegen sind. | |
Was, vielmehr wer „Main Street“ angesichts heutiger politischer Diskurse | |
aber besonders interessant – und sympathisch – macht: Carol, die vom | |
urbanen Weltgeist infizierte Protagonistin. Auch sie ist nicht frei von | |
Vorurteilen und Selbstlügen. Aber Lewis nutzt sie gezielt als Agentin der | |
Moderne, als Kämpferin für eine hellere, freiere Welt. Mehrfach schickt er | |
sie auf Ausflüge in die Großstadt, wo sie lebenslustige Suffragetten trifft | |
und Männer, die „von einer ungezwungenen Freundlichkeit waren und Frauen | |
ganz selbstverständlich akzeptierten, ohne jedes verkrampfte Geplänkel, | |
gerade so wie Carol es sich in Gopher Prairie immer gewünscht hatte“. | |
Bei aller Garstigkeit: Sinclair Lewis war kein Misanthrop, sondern ein | |
Frauen- und Männerfreund – einer der aufgeklärten Sorte. Er war verheiratet | |
mit der frauenbewegten Anti-Nazi-Journalistin Dorothy Thompson und verehrte | |
das Werk der sozialkritischen Schriftstellerin Edith Wharton. Man kann | |
vielleicht sagen: Der Mann war ein glühender Feminist. Auch deshalb lassen | |
sich seine Romane heute (wieder) sehr gut lesen. Sie sind angenehm | |
altmodisch und erschreckend gegenwärtig zugleich. | |
3 Jun 2018 | |
## AUTOREN | |
Katja Kullmann | |
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US-Literatur | |
Hollywood | |
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