# taz.de -- Helfen ist die ganze Miete | |
> Anna und Frau Siemßen trennen 57 Jahre und doch wohnen die beiden Frauen | |
> zusammen. Die Idee „Wohnen für Hilfe“ hat die beiden Frauen, | |
> zusammengeführt. Das Projekt, das die Vereinsamung von alten Menschen | |
> verhindern möchte, hat nur ein Problem | |
Bild: Jede gibt der anderen etwas – Hilfe oder Heim, aber vor allem Gemeinsch… | |
Aus Bremen Cara Westerkamp | |
Wer auf Elke Siemßens Festnetzanschluss anruft, landet meist auf dem | |
Anrufbeantworter. Die 76-Jährige ist dann bei ihrem Ruderklub oder auf | |
Reisen, zuletzt in Südafrika. „Dies ist der Anschluss von Elke und Henning | |
Siemßen. Bitte hinterlassen sie ihre Nachricht nach dem Signalton“, sagt | |
eine männliche Stimme. Es ist Henning Siemßen, ihr Ehemann. Er ist seit | |
fünf Jahren tot. | |
Einhorn, schwarzes Herz, Regenbogen. Das ist Annas Whatsapp-Status. Der | |
Anrufbeantworter der Generation-Y, der alle drei Tage aktualisiert wird. | |
Anna Fintelmann ist 19 Jahre alt, studiert Chemie im zweiten Semester und | |
ist vor fünf Monaten bei Frau Siemßen in Bremen-Riensberg, im Nord-Osten | |
der Stadt, eingezogen. Sie wohnt im ehemaligen Kinderzimmer der Tochter. | |
Mit Bett, Schreibtisch, Schrank, nur den Nachttisch hat sie selbst | |
mitgebracht und die Konzerttickets, die an der Pinnwand über dem | |
Schreibtisch hängen. | |
Frau Siemßen und Anna sind nicht verwandt, sie verbindet keine gemeinsame | |
Vergangenheit. Kennengelernt haben sie sich durch das Projekt „Wohnen für | |
Hilfe“, bei dem Studenten, die eine Wohnung suchen, an Senioren vermittelt | |
werden, die ein freies Zimmer haben. Außer Nebenkosten müssen sie keine | |
Miete zahlen, dafür helfen sie den Senioren: Sie putzen das Haus, gießen | |
Blumen, gehen Einkaufen oder lösen Computerprobleme. Beide füllen einen | |
Bewerbungsbogen aus und geben an, was gemacht werden will und soll. Wer | |
zusammenpasst, wird vermittelt. Die Regel ist, dass die Studenten im Monat | |
so viele Stunden arbeiten, wie ihr Zimmer Quadratmeter hat. Anna hilft Frau | |
Siemßen 17 Stunden, mal sind es auch weniger. Frau Siemßen schaut ihr nicht | |
auf die Finger, sie vertraut Anna. | |
## Gut, jemanden hier zu haben | |
Die beiden Frauen sitzen am Holztisch im Wohnzimmer. Er ist gedeckt mit | |
Keksen, Orangensaft und frischem Tee, der in kleine geschwungene Gläser | |
gefüllt wird, die Frau Siemßen von einer ihrer Reisen mitgebracht hat. „Es | |
ist eigentlich gar nicht so, dass ich die Hilfe bräuchte. Ich könnte meine | |
Wohnung auch noch alleine putzen. Das ist nicht der Grund. Es ist einfach | |
ein schönes Gefühl, jemanden hier zu haben“, sagt Frau Siemßen und Anna | |
nickt. „Es geht mir immer so, wenn ich an die Kellertreppe denke: Man geht | |
ja immer mit tausend Sachen runter, und wenn ich fallen würde, hätte ich | |
auch kein Handy dabei, und dann merkt das doch kein Schwein. Ich könnte da | |
wer weiß wie lange liegen. Da ist es dann doch ganz schön zu wissen, dass | |
Anna hier ist.“ | |
Das mit seinen fünf Zimmern für die beiden Frauen eigentlich immer noch zu | |
große Haus ist lichtdurchflutet. Die Terrassentür steht offen, Pollen | |
fliegen durch die warme Luft ins Wohnzimmer. „Es ist so ruhig hier“ – auch | |
nachts“, sagt Anna. Sie in aus ihrer elterlichen 2,5-Zimmerwohnung in | |
Hamburg hierher gezogen. „Ich habe in der Fuhlsbüttler Straße in Barmbek | |
gewohnt, das ist eine große und laute Hauptstraße. Und mein Zimmer dort war | |
kleiner als das, was ich hier habe“, sagt sie. Im ersten Semester ist Anna | |
noch gependelt, jeden Morgen ist sie um 5.28 Uhr in den Bus zum Hamburger | |
Hauptbahnhof gestiegen, dann in den Zug nach Bremen. Jetzt braucht sie zehn | |
Minuten bis zur Uni, Straßenbahn Linie 6. Jetzt wohnt sie in einem Haus mit | |
Garten, hat ein Zimmer mit Schreibtisch und Sonnenlicht, kann jeden Morgen | |
ausschlafen, auch wenn die Vorlesung um acht Uhr beginnt. | |
Jede gibt der anderen etwas, Hilfe oder Heim, aber vor allem Gemeinschaft. | |
Mit Gleichaltrigen zusammen zu wohnen, kann sich Anna nicht vorstellen. Sie | |
fühlt sich einsam in ihrer Generation. „Ich empfand es schon immer als | |
anstrengend, mit Leuten in meinem Alter, auch schon auf Klassenfahrten. Mit | |
Elke hab ich das Problem nicht“, sagt sie und lächelt Frau Siemßen an. Und | |
doch ist es ein bisschen wie in einer normalen Wohngemeinschaft. „An | |
manchen Tagen gibt man sich einfach nur die Klinke in die Hand“, sagt Frau | |
Siemßem. Jede hat eben ihren ganz eigenen Rhythmus. Frau Siemßen ist viel | |
unterwegs, während Anna am Schreibtisch sitzt und das Periodensystem | |
auswendig lernt. | |
„Wir wollten mal zusammen kochen, ne?“ | |
„Ja.“ | |
„Aber es ist noch nie dazu gekommen.“ | |
“Es ist noch so vieles, was noch in Planung ist.“ | |
„Wir wollten Rezepte von dir ausprobieren.“ | |
„Das kommt noch, wir wohnen ja erst kurz zusammen.“ | |
Als Frau Siemßens Mann plötzlich starb, lebte sie eineinhalb Jahre allein | |
in dem vierstöckigen Haus. Dann las sie einen Artikel über „Wohnen für | |
Hilfe“ in der Zeitung und rief Martin Stöver an. Er ist Sozialberater in | |
Bremen und betreut das Projekt. Er kümmere sich um die Teilnehmer wie ein | |
„Engel über allem“, sagt Anna und muss selbst über ihre Formulierung | |
lachen. „Stimmt aber“, sagt Frau Siemßen. | |
## Generation, die sonst im Leben fehlt | |
Stöver vermittelte Frau Siemßen bisher drei Studentinnen. Die ersten zwei | |
Wohnpartnerschaften wurden aufgelöst, als die Mitbewohnerinnen ihr Studium | |
abgeschlossen hatten. Für Frau Siemßen war aber klar, dass sie weiterhin | |
mit einer Studentin zusammenleben möchte. Es ist vor allem der Austausch | |
zwischen Alt und Jung, den sie an dem Projekt schätzt. „Worüber ich mit | |
Eli, meiner vorherigen Mitbewohnerin aus dem Iran alles geredet habe: über | |
die Kultur, die Unterschiede, stundenlang über ihr Liebesleben und Männlein | |
und Weiblein. Mehr als mit meinen eigenen Kindern in der Zeit“, sagt sie. | |
„Für mich ist das die Generation, die ich sonst nicht in meinem Leben habe. | |
Meine Kinder sind älter, die Enkel jünger. Man bleibt auf dem Laufenden.“ | |
Doch das Projekt hat ein Problem. Zwar bewerben sich so viele Studenten, | |
dass es eine Warteliste gibt, „aber auf Seniorenseite kleckert das nur so | |
hinterher“, sagt Stöver. Momentan gibt es sechs Wohnpartnerschaften in | |
Bremen. Es könnten mehr sein, wenn sich mehr Senioren bei ihm meldeten. | |
„Das Problem ist die Angst vor fremden Menschen im eigenen Haus. Fremde | |
Menschen im Sinne von Menschen, die man noch nicht kennt. Aber auch | |
Menschen aus fremden Kulturen. Da gibt es eine weit verbreitete Angst.“ | |
In Hamburg ist das Projekt, das dort vom Studierendenausschuss organisiert | |
wurde, deswegen gescheitert. Zu wenig Senioren hatten Interesse, kaum | |
jemand meldete sich. „Das ist so schade, weil es ja auch in Hamburg zu | |
schwer ist, eine Wohnung zu finden“, sagt Anna. „Ich bekomme das ja mit. | |
Die Alten sagen: Ist ein tolles Projekt, finde ich ganz wunderschön, für | |
mich ist das aber nichts“, sagt Frau Siemßen. „Dabei geht das über das | |
Studentenwerk, die sind an der Uni registriert, also sicherer geht’s doch | |
fast gar nicht.“ | |
Dabei sei das Projekt gerade für Menschen verschiedener Herkunft toll, sagt | |
Stöver und erzählt von einer Wohngemeinschaft, die ihn besonders berührt. | |
„Sie ist eine typische alte Bremer Dame, die irgendwo am Rande der Stadt | |
lebt und einen chinesischen Studenten aufgenommen hat. Das sind zwei total | |
unterschiedliche Welten, die sich da treffen, in einer ganz entspannten | |
Anspruchslosigkeit. Und das geht alles wunderbar“, sagt er. „Zu erleben, | |
wie da ein Vertrauen entsteht zwischen zwei Menschen, die sich nicht | |
kannten, ist großartig.“ | |
Die Idee für das Projekt hatte Stövers Vorgängerin, die mit dem System | |
Altenhilfe gut vertraut war und daher wusste, was Vereinsamung für alte | |
Menschen bedeutet. „Dafür bekommt man auf dem Markt der Dienstleistungen | |
kaum Hilfe“, sagt Stöver. „Und jemand, der Schnee fegt, löst ja nicht das | |
‚Ich fühl mich alleine‘-Problem.“ | |
Für Frau Siemßen hat es noch weitere, ganz praktische Vorteile, nach dem | |
Tod ihres Mannes nicht mehr allein zu wohnen: „Man wird wieder so ein | |
bisschen zur Ordnung erzogen. In der Küche, im Bad oder wo man sonst noch | |
alles durch die Gegend schmeißen würde, wäre man alleine.“ Manchmal wirkt | |
es beinahe so, als wäre Frau Siemßen der jüngere und Anna der ältere Geist. | |
Schon jetzt wissen die beiden Frauen, dass mit Annas Studienabschluss auch | |
ihre gemeinsame Zeit in dem Haus endet. Doch all zu viel ändern wird sich | |
für Frau Siemßen nicht: Sie wird einen neuen Bewerbungsbogen ausfüllen, | |
eine neue Studentinnen kennenlernen und eine neue passende Helferin finden, | |
die vierte. Alleine wohnen, das möchte sie nicht mehr. | |
12 May 2018 | |
## AUTOREN | |
Cara Westerkamp | |
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