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# taz.de -- Prozess gegen Meşale Tolu: Völlig absurde Vorwürfe
> Vor der Verhandlung hofft Meşale Tolu, dass ihr Ausreiseverbot aufgehoben
> wird. Ein weiterer Deutscher ist wegen gleicher Vorwürfe inhaftiert.
Bild: Tolu saß von April bis Dezember 2017 im Gefängnis
Meşale Tolu hat sich zurückgezogen. Seit sie am 18. Dezember unter Auflagen
aus dem Gefängnis freikam, darf die deutsche Staatsbürgerin die Türkei
nicht verlassen. Jeden Montag meldet sie sich auf der Polizeiwache in der
Nähe ihrer Wohnung in Istanbul. Bei der Nachrichtenagentur Etha, für die
sie früher gearbeitet hat, schaut sie kaum noch vorbei.
Ihr Leben ist nicht zur Normalität zurückgekehrt. Wenn sie sich nicht um
ihren Sohn kümmert, der halbtags im Kindergarten ist, denkt sie oft an die
Haft und an die Freundinnen, die sie dort zurückgelassen hat. Die
vergangenen Monate hat sie in Erwartung des nächsten Prozesstermins erlebt.
Heute wird das Verfahren gegen sie fortgesetzt. Von der Verhandlung erhofft
sie sich vor allem, dass die Auflagen für ihre Freilassung aufgehoben
werden. Dann könnte sie nach Deutschland zurück, wo sie geboren und
aufgewachsen ist.
Die Linken-Abgeordnete Heike Hänsel begleitete den Prozess gegen Meşale
Tolu von Beginn an, auch diesmal reist sie zur Prozessbeobachtung nach
Istanbul. Die stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion war im
Gerichtssaal des streng bewachten, wie sie es nennt, „martialischen“
Hochsicherheitsgefängnisses von Silivri und im Dezember im Istanbuler
Gerichtspalast, wo Tausende Fälle am Fließband verhandelt werden.
## Internationale Aufmerksamkeit lässt nach
Beim Prozessauftakt im Oktober 2017 sei die Medienaufmerksamkeit groß
gewesen, weil es das erste Verfahren gegen eine deutsche Journalistin in
der Türkei war, sagt Hänsel. Doch nachdem Peter Steudtner und Deniz Yücel
freigelassen wurden und ausreisen durften, bestehe nun die Gefahr, dass man
in Deutschland zum Normalzustand zurückkehre. „Davon kann in der Türkei
keine Rede sein: Die politischen Prozesse ohne jegliche Beweislage gehen
weiter, die Inhaftierungen gehen weiter. Es braucht nach wie vor
Aufmerksamkeit. Deshalb ist es mir wichtig, bei der Verhandlung dabei zu
sein“, sagt sie. Heike Hänsel ist die einzige Bundestagsabgeordnete, die
den Prozess verfolgt.
Der Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen, Christian Mihr, befürchtet,
dass die internationale Aufmerksamkeit diesmal deutlich geringer ausfallen
wird als noch im Dezember. „Nach der Freilassung von Deniz Yücel hat das
Interesse an den in der Türkei inhaftierten Journalisten deutlich
nachgelassen. Auch wenn viele damals gesagt haben, wir dürfen jetzt die
anderen Inhaftierten nicht aus den Augen verlieren, passiert nun genau
das“, sagt er.
Was Meşale Tolu widerfuhr, ähnelt dem, was auch unzählige Oppositionelle,
Journalist*innen, Anwält*innen und Aktivist*innen in der Türkei
erleben. Besitzen sie nicht die deutsche Staatsangehörigkeit, hört man in
Deutschland so gut wie nichts von ihnen. Den Überblick über die unzähligen
Prozesse in der Türkei zu behalten ist schwer. Nachdem Meşale Tolu bei
einer Razzia am 30. April 2017 von bewaffneten Polizisten aus ihrer Wohnung
geholt worden war, saß sie bis Dezember 2017 im Frauengefängnis Bakırköy
ein. Zeitweise war ihr damals zweieinhalbjähriger Sohn Serkan bei ihr.
Tolu werden Mitgliedschaft in und Propaganda für die linksextreme MLKP zur
Last gelegt, die in der Türkei als Terrororganisation eingestuft wird. Die
türkischen Gesetze sehen dafür bis zu zwanzig Jahre Haftstrafe vor. Als
Beweis legt die Staatsanwaltschaft zugrunde, dass Tolu zwischen 2013 und
2015 mit mehreren Tausend anderen Menschen an Gedenkveranstaltungen und
Beerdigungen von YPG-Kämpfer*innen teilnahm, die im Kampf gegen den IS
umgekommen waren. Eine davon war die Gedenkveranstaltung für die Deutsche
Ivana Hoffmann, die in den Reihen der YPG gegen den IS kämpfte.
## Warum Demirci, ist gänzlich unklar
Wegen derselben Vorwürfe wurde im April ein weiterer deutscher
Staatsangehöriger in der Türkei verhaftet. Der Kölner Sozialwissenschaftler
Adil Demirci war mit seiner krebskranken Mutter nur für ein paar Tage im
Urlaub in Istanbul. Am frühen Morgen des 13. April stürmten Polizisten die
Wohnung im Istanbuler Stadtteil Kartal, in der er untergekommen war, und
nahmen den 32-Jährigen fest. „Mein Bruder hat mit meiner Mutter Verwandte
besucht. Sie haben fünf schöne Tage in der Türkei verbracht, bis Adil
festgenommen wurde“, sagt Tamer Demirci.
Er versteht immer noch nicht, was passiert ist. Sein Bruder besitzt sowohl
die deutsche als auch die türkische Staatsangehörigkeit und arbeitet beim
Jugendmigrationsdienst in Remscheid mit traumatisierten Jugendlichen aus
Kriegsgebieten. Nebenher ist er seit rund fünf Jahren ehrenamtlicher
Korrespondent bei der sozialistischen Nachrichtenagentur Etha, für die auch
Meşale Tolu gearbeitet hat.
Warum ausgerechnet Demirci, der in Istanbul keine Meldeadresse hat und sich
nur für einen kurzen Zeitraum in der Stadt aufhielt, ins Visier der
türkischen Behörden geriet, bleibt unklar. Bei der Einreise gab es keine
Schwierigkeiten, auch in den Jahren zuvor ist Demirci seinem Bruder zufolge
problemlos ein- und ausgereist. Nun wirft die Staatsanwaltschaft auch ihm
vor, Mitglied der MLKP zu sein. Sie stützt sich auf Fotos von den drei
Gedenkveranstaltungen, an denen auch Meşale Tolu teilgenommen hatte. Am 17.
April wurde Demirci in Untersuchungshaft genommen und wenig später ins
Hochsicherheitsgefängnis von Silivri gebracht.
## Teilnahme an Beerdigung als Straftat
„Die Vorwürfe sind völlig absurd: An einer Beerdigung teilzunehmen ist
nicht verboten“, sagt Tamer Demirci. „Mehr haben sie gegen ihn nicht in der
Hand. Das sind Standardvorwürfe, wie sie auch gegen Meşale Tolu erhoben
wurden.“ Die Verhaftung seines Bruders sei eine Doppelbelastung für die
Familie, sagt er. Zuvor hatten sich die Brüder gemeinsam um die Mutter
gekümmert.
„Wie kann die Teilnahme an Gedenkveranstaltungen, die 2013 und 2015 keine
Straftat darstellten, 2018 plötzlich ein Straftatbestand sein? Haben sich
etwa die Gesetze geändert?“, fragt Adil Demircis Anwältin Gülhan Kaya und
fährt fort: „Was sich tatsächlich geändert hat, ist das politische Klima in
der Türkei.“ Auch gegen Kaya laufen Ermittlungen, sie darf das Land nicht
verlassen und muss sich ebenfalls wöchentlich bei der Polizei melden.
Dennoch kümmert sie sich um die Prozesse von Meşale Tolu, Adil Demirci und
rund hundert anderen, die wegen desselben Vorwurfs vor Gericht stehen.
Kaya meint, wenn man in der Türkei für eine regierungskritische Zeitung
arbeitet, als Sozialist*in bei Straßenaktionen aktiv ist oder, im
schlimmsten Fall, beides, werde das früher oder später gegen einen
verwendet. Vor allem vor Wahlen oder bei der Mobilisierung zum 1. Mai
steige die Zahl der Festnahmen. „Du musst jeden Augenblick deine Verhaftung
fürchten. Das normale Prozedere wäre: Du wirst vorgeladen, um deine Aussage
zu machen, wenn es Ermittlungen gegen dich gibt. Kommst du der Vorladung
nicht nach, wird deine Festnahme angeordnet. Doch bei uns ist inzwischen
alles so normal geworden. Nein, was hier geschieht, lässt sich mit Recht
und Gesetz nicht erklären“, sagt Kaya.
## Politische Unsicherheit
„Die Verhaftung von Adil Demirci sollte allen eine Lehre sein, die meinten,
nach der Freilassung von Deniz Yücel sei wieder alles in Ordnung“, sagt
Christian Mihr von Reporter ohne Grenzen. Er beobachtet eine politische
Unsicherheit, wie die deutsche Seite mit dem Fall umgehen will. Auch Heike
Hänsel hat den Eindruck, die Bundesregierung versuche, den Fall Adil
Demirci „unter dem Radar zu halten, um die angekündigte Normalisierung mit
der Türkei nicht zu gefährden“.
Ausgerechnet die Verbindung zu Etha könnte sich dabei vielleicht positiv
auf den Fall von Adil Demirci auswirken, vermutet Mihr aber. „Dadurch
berichten die deutschen Medien über ihn“, sagt er. In aller Regel helfe den
deutschen Inhaftierten in der Türkei Aufmerksamkeit. „Wir haben bei Deniz
Yücel gesehen, dass letztlich der politische Preis wegen des öffentlichen
Drucks so hoch war, dass die türkische Seite verzweifelt einen Ausweg
gesucht hat, ihn loszuwerden und gleichzeitig eine rechtsstaatliche Fassade
zu wahren.“
Tamer Demirci hat mit Freund*innen seines Bruders in Köln einen
Solidaritätskreis für Adil Demirci gegründet. Gemeinsam halten sie auf dem
Kölner Wallrafplatz Mahnwachen ab und fordern, dass Adil Demirci
freigelassen wird. „Es ist wichtig, dass wir wöchentlich sichtbar sind, um
medialen Druck aufzubauen“, sagt Tamer Demirci. Als Meşale Tolu inhaftiert
war, hat Adil Demirci an den wöchentlichen Mahnwachen für sie teilgenommen.
Das hat seinen Bruder auf die Idee gebracht, den Protest fortzusetzen,
„diesmal leider für Adil“.
25 Apr 2018
## AUTOREN
Elisabeth Kimmerle
Ali Çelikkan
## TAGS
taz.gazete
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