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# taz.de -- Kolumne Patataz: Atomkraft? Ja, bitte!
> In der Türkei wird die Werbetrommel für ein neues Kernkraftwerk gerührt.
> Dabei hatte Tschernobyl dort fatale Folgen. Unser Autor erinnert sich.
Bild: Würden Sie diesen Tee trinken?
Als im April der Grundstein für das erste Atomkraftwerk der Türkei gelegt
wurde, lief im Fernsehen dauernd Werbung für Kernkraft. Wenn man sich die
Werbespots für das AKW Akkuyu ansieht, bekommt man richtig Lust auf
Nuklearenergie. Natürlich haben wir nicht zum ersten Mal was von Atomkraft
gehört. Unsere Generation machte vor genau 32 Jahren bei der Katastrophe
von Tschernobyl am 26. April 1986 schon im Kindesalter Bekanntschaft mit
Atomkraftwerken.
Wegen Tschernobyl redeten die Erwachsenen damals ständig von
Kernkraftwerken und radioaktiven Wolken. Auch wenn wir noch sehr jung
waren, begriffen wir, dass etwas Entscheidendes mit radikalen Auswirkungen
auf unser Leben geschehen sein musste, als das Land in eine „Teekrise“
geriet und auf einem „Haselnussberg“ sitzenblieb.
In dem Gedicht „Das wüste Land“ schrieb T.S. Eliot: „April ist der übel…
Monat von allen.“ Im April 1986 bewahrheitete sich sein Satz. Auf einen
Schlag war eine der Lebensadern der Türkei abgeschnitten. Die erste
Auswirkung von Tschernobyl auf die Türkei war die „radioaktive Teekrise“.
Unzählige Familien verboten ihren Kindern, Tee zu trinken. Für die
Erwachsenen, die jeder für sich soviel Tee konsumieren wie eine europäische
Kleinstadt, war die Sache schwieriger. Zunächst versuchten die Leute, Tee
aus der Zeit vor der Tschernobyl-Katastrophe zu bekommen.
Später nahm man auch Tee mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum. Natürlich
nutzten Betrüger die Notlage aus und datierten frisch produzierten Tee
zurück, als wäre dessen Haltbarkeit bereits abgelaufen. Wahrscheinlich
wurden damals zum ersten Mal in der Geschichte des Lebensmittelbetrugs
frische Produkte als abgelaufene verkauft, statt wie sonst üblich
abgelaufene als frische.
## Radioaktiver Tee schmeckt besser
Tschernobyl wurde so stark mit Tee identifiziert, dass der damalige
Industrie- und Handelsminister Cahit Aral vor laufenden Kameras Tee trank,
um zu beweisen, dass Tee keineswegs radioaktiv sei. „Wer behauptet, es gebe
Radioaktivität in der Türkei, ist gottlos“, sagte er. Der damalige
Premierminister Turgut Özal ging sogar noch weiter und behauptete:
„Radioaktiver Tee schmeckt besser.“
Auch die Haselnuss bekam in der Radioaktivitätsdebatte ihr Fett weg.
Deutschland, das schon damals anfing, uns zu beneiden (in der Türkei weit
verbreitete und von der Regierung propagierte These, Deutschland beneide
die Türkei für ihre Großprojekte, Anm.d.Red.) , schickte Haselnüsse zurück,
weil der Radioaktivitätsgehalt angeblich die Grenzwerte überstieg. Ihr Neid
machte nicht einmal vor dem Tee Halt.
Eines Tages gingen die Klassenzimmertüren meiner Generation, der zwischen
1977 und 1983 Geborenen, auf und hereingeschafft wurden paketweise
Haselnüsse. Millionen Tüten Haselnüsse mit dem Logo Fiskobirlik wurden
gratis an Grundschüler*innen verteilt. Wir aßen die Haselnüsse, die
Deutschland und Amerika wegen des Verdachts auf Radioaktivität
zurückgewiesen hatten. Oder der Staat hatte den Bauern ihr Produkt
abgenommen, weil sie die Haselnüsse nirgends mehr los wurden. Als auch die
Regierung diese nicht vermarkten konnte, beschloss sie, sie an kleine
Kinder zu verteilen.
Heute bin ich froh darüber, dass wenigstens beim Tabak nicht allzuviel
Radioaktivität gemessen wurde oder, genauer gesagt, dass sich niemand um
Radioaktivität im Tabak scherte und der Export nicht einbrach. Sonst hätten
sie womöglich auch noch schachtelweise Zigaretten an uns verteilt.
## Neun Krebsfälle in zwei Familien
Tschernobyl war zwar bald vergessen, uns aber hat Tschernobyl nicht
vergessen. Am Schwarzen Meer, besonders in bestimmten Provinzen gibt es
keine Familie ohne Krebsfall. Die Behörden leugnen zwar, dass bei der
Anzahl der Krebserkrankungen ein erheblicher Unterschied zwischen den
Regionen zu erkennen ist, haben uns aber bislang auch keine aussagefähige
Statistik dazu vorgelegt. Die Krebsdiagnose wird Patient*innen vom
Schwarzen Meer ja auch meist in Kliniken in Ankara oder Istanbul gestellt.
Schlauer werde ich auch aus der Studie „Krebs in der Türkei nach dem
Nuklearunfall von Tschernobyl“ des türkischen Ärzteverbands nicht. Dort
steht ausdrücklich, dass die notwendigen Informationen fehlen, um eine
vernünftige Statistik zu dem Thema zu erstellen. Aber allein der Musiker
Volkan Konak, der vom Schwarzen Meer stammt, hat innerhalb weniger Jahre
gleich sechs Angehörige durch Krebs verloren. Sein Klagelied über eine
Istanbuler Klinik, in der viele Krebspatient*innen starben, kennt in der
Türkei jede*r.
Kazım Koyuncu, ein weiterer Musiker vom Schwarzen Meer, starb in jungen
Jahren selbst an Krebs. Bedenken wir, dass auch Koyuncus Vater und Bruder
an Krebs erkrankt sind, sehen wir allein in diesen zwei Familien neun
Krebsfälle. Wie ergeht es wohl all denen, die wir nicht kennen, weil sie
nicht berühmt sind?
Die Türkei, in der allein 2017 mehr als 2.000 Menschen aufgrund von
Fahrlässigkeit und Profitgier an ihrem Arbeitsplatz ums Leben kamen, will
nun ein AKW bauen. Sind wir wirklich in der Lage zu sagen: „Uns passiert
schon nichts“?
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
26 Apr 2018
## AUTOREN
Barış Uygur
## TAGS
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Türkei
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