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# taz.de -- Kolumne Ayol: Kreuzberg ist nicht Klein-Istanbul
> Unsere Kolumnistin ist jetzt eine Berlinerin. In der Hauptstadt ist
> vieles anders als in Istanbul, aber eins gibt es hier wie dort: die
> Spitzel Erdoğans.
Bild: Hört der Tischnachbar mit?
Ich bin jetzt eine Berlinerin. Wie viele andere musste ich Istanbul aus den
hinlänglich bekannten Gründen verlassen. Nachdem ich sechs Monate in
Leipzig gelebt habe, wohne ich nun offiziell in der Hauptstadt.
Was die Einwohnerzahl angeht, ist Berlin kleiner als Istanbul, aber als
Metropole ist Berlin Istanbul um einiges voraus. Berlin ist eine echte
Weltstadt. In Kreuzberg, dem “Klein-Istanbul“, wo viele Berliner Türk*innen
leben, findet man in türkischen Cafés und Supermärkten alles, was man als
Zugezogene vermisst. Meistens treffen wir uns hier, wohl aus Heimweh. Aber
als Istanbulerin muss ich doch eins sagen: Kreuzberg ist nicht
Klein-Istanbul. Mich erinnert Kreuzberg mit seinen Dönerläden eher an eine
südostanatolische Stadt.
Neulich habe ich mich mit einem alten Freund aus Istanbul verabredet.
Natürlich in Kreuzberg, in einem türkischen Café – wo sonst? Wir sitzen
also bei Çay und Simit mit Schafskäse zusammen und sind so in den Gossip
über den alltäglichen Wahnsinn in der Türkei vertieft – Festnahmen! Medien!
Tayyip! Gülenisten! Kurden! und so weiter – dass wir schon unseren dritten
Çay leeren. Im Gespräch checke ich aus einem typischen Journalistenreflex
heraus die Umgebung ab. Kaum, dass ich mich umdrehe – oh my god, du glaubst
es nicht – sitzt am Nebentisch ein türkischer Mann und nimmt mit seinem
Handy unser Gespräch auf.
## Denunziert als „Vaterlandsverräter“
Ich war fassungslos. In Istanbul war ich an diese Spitzel gewöhnt, aber
dass mir sowas in Berlin passiert, hätte ich nicht erwartet. Weil ich
meinen Freund nicht beunruhigen wollte, habe ich erstmal nichts gesagt und
das Thema gewechselt. Als er auf die Toilette ging, habe ich meine
Contenance einer Pariserin abgelegt und den widerwärtigen Kerl zur Rede
gestellt. “Was machst du da, lan?“, habe ich ihn auf Türkisch gefragt.
Wahrscheinlich hat er so eine Reaktion von mir nicht erwartet. Ich hab ihm
wohl ein bisschen Angst eingejagt, jedenfalls ist er aufgestanden und
rausgerannt.
Was hatte dieser Vorfall zu bedeuten? Ich versuche immer noch, das zu
verstehen. Mir fielen die Osmanen Germania ein, und die Imame in den
Ditib-Moscheen, die regelrecht für die AKP-Regierung spionieren. Die denken
wohl, dass sie damit ihrem “Vaterland“ einen Dienst erweisen. So, wie
Regierungsgegner*innen in der Türkei pauschal zu “Terroristen“ erklärt
werden, werden sie, wenn sie vor diesem System nach Deutschland geflüchtet
sind, hier als “Vaterlandsverräter“ denunziert und den türkischen Behörd…
gemeldet.
Kreuzberg ist nicht “Klein-Istanbul“, es ist “Klein-Tayyipistan“. Meine
Freude, jetzt eine Berlinerin zu sein, ist der Verunsicherung gewichen.
Haben nicht alle gesagt, dass wir hier sicher sind? Ab jetzt muss ich
besser aufpassen. Nicht Türkisch reden, wenn ich nicht unbedingt muss. Ich
bin nach Berlin gekommen, um durchzuatmen und zu schreiben. Jetzt bin ich
hier genauso nervös wie in Istanbul. Ich hoffe, dass dieser absurde Zustand
nicht von Dauer ist und ich mich an Berlin gewöhne – und Berlin sich an
mich.
20 Apr 2018
## AUTOREN
Michelle Demishevich
## TAGS
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Türkei
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