# taz.de -- Die Straßentrinker | |
> „Cornern“ nennen sie es in Hamburg, wenn sich vor ausgewählten Kiosken | |
> große Menschenmengen versammeln, um auf der Straße zu sitzen und zu | |
> trinken. Die Kneipenwirte sehen das nicht gern: Sie haben den Kiosken den | |
> Kampf angesagt | |
Bild: Cornern vor dem Nachbarlokal: Die meisten, die hier auf dem Gehweg sitzen… | |
Von Cara Westerkamp | |
Erst war es das Rotlicht, dann war es das Blaulicht, jetzt wird der Kiez | |
beleuchtet vom Neonlicht. Vom Neonlicht der Kioske, die auf St. Pauli | |
Zeitungen, Tabakwaren, Süßigkeiten – aber vor allem Alkohol verkaufen. Die | |
Kioske können es sich erlauben, Bier für einen Euro oder Gin-Tonic für drei | |
anzubieten. Sie zählen zum Einzelhandel und müssen keine Schankgenehmigung | |
vorweisen, kein Personal einstellen, keine Verantwortung übernehmen. | |
Das stört die Gastronomen auf dem Kiez gewaltig. Kioske klauen den Kneipen | |
das Geschäft. Oder zumindest den Kiez. Verfünffacht hat sich die Anzahl der | |
Kioske in den letzten zehn Jahren, inzwischen sind es um die 60 auf St. | |
Pauli. Muss ein Gastronomiebetrieb schließen, ist die Angst der restlichen | |
Wirte groß, dass in die leer stehenden Räume ein neues Kiosk einzieht. | |
Dieses Jahr organisierten Kneipenbetreiber des Kiezes bereits eine | |
Demonstration unter dem Motto „Save St. Pauli“. Vor einem Monat dann ging | |
es weiter mit der Protestaktion „Der ganze Kiez ein Kiosk“. Dabei blieben | |
für einen Abend viele Kneipen geschlossen, genauso wie die Toiletten. | |
Stattdessen wurde Billig-Alkohol über die Fenster verkauft. Man wolle damit | |
gegen „unregulierten Wildwuchs und unfaire Bevorteilung gegenüber | |
Gastronomen“ protestieren, hieß es in einer Ankündigung. Geplant ist, jeden | |
Monat eine solche Aktion zu starten, bis sich etwas ändert. | |
Die Gastronomen weisen darauf hin, dass Kioske ihren Gästen keine Toiletten | |
zur Verfügung stellen und andere Brandschutz- und Schallschutzrichtlinien | |
erfüllen müssen, obwohl sie teilweise sogar Cocktails hinterm | |
Zeitungstresen mischen. „Es geht uns darum, dass da wieder Gerechtigkeit in | |
die Gesetzeslage kommt“, sagt Julia Staron vom Quartiersmanagement, hinter | |
dem die Geschäftsleute auf St. Pauli stehen, aber auch die Stadt Hamburg. | |
Zusammen mit Theaterchef Corny Littmann war sie Initiatorin von „Der ganze | |
Kiez ein Kiosk“. Mitgemacht haben zahlreiche Gaststätten und Klubs, unter | |
anderem die Bar von Drag-Queen Olivia Jones. Würde der gesamte Kiez nur | |
noch aus Kiosken bestehen, ginge die Kiezkultur kaputt, sagen die | |
Kneipenbesitzer. Ihre Forderung ist deshalb entweder eine Änderung der | |
Auflagen für die Kioskbetreiber oder ein Ausschankverbot ab 22 Uhr. | |
Damit dürften die jungen Menschen, die sich jeden Abend vor den Kiosken auf | |
St. Pauli treffen, allerdings ein Problem haben. „Auch wenn ich mir ein | |
Bier in der Bar da drüben leisten kann, warum sollte ich? Hier gibt es | |
Astra für die Hälfte, das ist dann doch der bessere Deal“, sagt Jan. Er ist | |
26, Grafikdesigner und hängt mit seinen Freunden fast jeden Abend vor der | |
Tabak-Börse an der Ecke Neuer Pferdemarkt/Wohlwillstraße ab. Auch heute, an | |
einem Mittwochabend, herrscht hier Festivalstimmung. Rund 100 Leute stehen | |
quatschend mitten auf der Straße, hocken auf den Bordsteinen. Der Asphalt | |
ist bedeckt mit Zigarettenstummeln, trotzdem sitzen Leute auf dem Boden. | |
Stimmen wuseln durcheinander, lautes Lachen mal von links, mal von rechts, | |
mal von irgendwo anders. Zwischendrin immer wieder ein „Ah, moin, schön | |
dich zu treffen!“, weil sich fast jeder zu kennen scheint. Es ist ein Sehen | |
und Gesehenwerden, ein Freiluft-Laufsteg für jedermann. Um jede | |
Straßenlaterne, um jedes Straßenschild wickeln sich dutzende | |
Fahrradschlösser. Und wer nicht mit dem Fahrrad kommt, der kommt mit dem | |
Skateboard. | |
Einige haben sich etwas zu Essen mitgebracht, Dürüm-Döner ist besonders | |
praktisch zum Draußenessen, und dazu gibt es ein Bier vom Kiosk. Am Eingang | |
der Tabak-Börse hängt dafür, an eine Schnur geknotet, ein Flaschenöffner. | |
Heute trägt Jan abgeschnittene Jeans-Shorts und hochgezogene Tennissocken | |
und liegt mit seinen Freunden entspannt auf einem Parkplatz herum. Als ein | |
Auto kommt, müssen sie aufspringen. Dabei fällt einem der Mädchen ihr | |
I-Phone auf den Asphalt, das Astra hält sie fest in den Händen. Sie lachen | |
darüber, stellen sich auf den Bürgersteig und schauen sich nach einem neuen | |
Platz um. „Wenn wir eh stehen, dann holen wir jetzt erst ma’noch mehr | |
Bier“, sagt Jan zu den anderen und steuert auch schon durch die Menge in | |
Richtung Tabak-Börse. | |
Jan und seine Freunde cornern. Der Begriff stammt aus dem New York der | |
Achtzigerjahre, als sich rivalisierende Hip-Hop-Crews an Straßenecken in | |
der Bronx trafen, um gegeneinander zu tanzen. Jan und seine Freunde tragen | |
weder Goldketten noch battlen sie sich beim Breakdance. Cornern bedeutet | |
heute nur noch, mit Freunden an Straßenecken herumzuhängen und gemeinsam | |
aufs Leben anzustoßen. | |
## Es begann mit dem Umzug in einen Container | |
Es ist ein Hamburger Trend, der allerdings nicht neu ist. Angefangen hat | |
alles 2009, genau hier, als die Tabak-Börse vorübergehend aus dem Gebäude | |
raus musste. Der Eigentümer ließ es komplett sanieren, Mieten wurden | |
gekündigt, Anwohner mussten raus, doch die Tabak-Börse bekam ein spezielles | |
Angebot. Als Alternative dürfe sie den Sommer über in einen Container auf | |
den Platz direkt gegenüber ziehen. Aus einem Sommer wurden zwei, dann drei. | |
Die Leute fanden Gefallen an der Atmosphäre. Kleine Tische davor, weicher | |
Rasen daneben und ein Toilettenhäuschen in der Nähe schrien danach: Hier | |
sollt ihr cornern! Drei Jahre später dann zog die Tabak-Börse wieder in das | |
Gebäude zurück. Die Ära des Containers war damit zu Ende, die Ära des | |
Cornerns fing gerade erst an. | |
Die Kioske, vor denen gecornert wird, befinden sich meist in unmittelbarer | |
Nähe zu Kneipen. Und damit haben die Wirte ein Problem. Die Leute nutzen | |
nicht nur das Ambiente der Gaststätten mit, sondern auch die Toiletten. Oft | |
wird kein Cent dort gelassen. „Die kaufen sich ihr Bier am Kiosk, stellen | |
sich dann aber bei mir vors Fenster, weil sie auch Bock auf Musik haben, | |
und gehen hier aufs Klo, weil sie saubere Toiletten wollen“, sagt Oliver | |
Hörr. Seit 1995 betreibt er den Saal II am Schulterblatt, vor zehn Jahren | |
ist nebenan ein Kiosk eingezogen. Auch er leidet unter den Auswirkungen des | |
Verkaufs von Billig-Alkohol. „Die Leute stellen sich vor meinen Laden, | |
machen alles dicht, wollen die Toiletten benutzen und kommen mit vollen | |
Getränken hier rein, als wäre das ganz normal“, sagt er. Weniger Umsatz als | |
vorher mache er zwar nicht, aber der Kioskkonsum wirke sich auf Stimmung in | |
seinem Laden aus. Seit fünf Jahren beschwert er sich nun schon beim | |
Bezirksamt Hamburg-Mitte, doch geändert habe sich bis jetzt nichts. | |
Nicht einmal dagegen, dass Kioske ohne Konzession selbst Cocktails mischen, | |
könnten sie etwas ausrichten, sagen die Kneipenwirte. Dazu müsse es | |
gerichtsfest bewiesen werden, und mit dieser Aufgabe scheine das | |
Ordnungsamt überfordert. „Es geht nicht darum, einzelnen Kioskbetreibern | |
den Krieg zu erklären. Aber leider ist es zur Regel geworden, dass Recht | |
und Gesetz gebrochen werden“, sagt Quartiersmanagerin Julia Staron. Die | |
Kioskbesucher würden in Hauseingänge urinieren und sich danebenbenehmen. | |
„Pinkeln, Kotzen, haste nicht gesehn“, sagt Staron. „Aber is’doch Kiez | |
hier!“, sagten die Feiernden dann. Staron sieht das etwas anders. „Wenn ich | |
in den Hauseingang pisse, ist das auf St. Pauli genauso scheiße wie in | |
Eppendorf.“ | |
Vor einem guten Jahr hat der Bezirksabgeordnete der Grünen für Altona, | |
Holger Sülberg, einen letztlich erfolglosen Antrag gestellt, gegen die | |
Corner- und Kioskkultur vorzugehen. Auch auf dem Alma-Wartenberg-Platz in | |
Altona treffen sich jeden Abend die Menschen und trinken gemeinsam. Dort | |
seien es allerdings eher die Anwohner, nicht die Kneipen, die ein Problem | |
damit hätten, meint Sülberg. „Anwohner haben sich schon beschwert und | |
wurden übel angepöbelt, teilweise wurden sie schon als Nazis beschimpft, | |
wenn sie die Kioskbetreiber angesprochen haben.“ | |
Letzten Sommer berichteten Leute, dass Anwohner sie von den Balkonen mit | |
Eiern beworfen und mit Wasser bespritzt hätten. In einen Dialog zu kommen, | |
sei schwierig. Beschwerden liefen oft ins Leere, es würde mit einer | |
Mischung aus Sympathie und Hilflosigkeit reagiert, denn mit der jetzigen | |
Gesetzeslage habe man im Bezirk wenig Handhabe. Immerhin wurden am Bahnhof | |
Sternschanze Sanitäranlagen installiert und mobile Toilettenhäuser am | |
Schulterblatt. Doch Sülberg bleibt realistisch: „Wir dürfen uns nichts | |
vormachen, da wird auch in Zukunft nicht jeder Hauseingang blitzblank sein, | |
aber wir können wenigstens für die vernünftigen der Besucher ein Angebot | |
schaffen.“ | |
Doch Sülberg bringt auch Verständnis für die Konsumenten auf. „Die Leute | |
wollen ausgehen, dabei nicht so viel ausgeben, aber trotzdem dazugehören“, | |
sagt er. Diejenigen, die cornern und am Kiosk trinken, nennt er „Generation | |
Praktikum“. Für ihn seien das Leute, die sehr viel leisten müssen, aber | |
trotzdem keine klare Zukunft haben. Die wenig Geld hätten, dafür einen | |
großen Drang nach Freiheit. Jeder könne sich ein Bier vom Kiosk leisten, | |
niemand müsse sich für eine bestimmte Kneipe entscheiden. „Man kann das | |
demokratisch nennen, aber es ist auch ein bisschen anarchisch. Es gibt | |
keinen Gastgeber und keinen, der aufräumt“, sagt Sülberg. | |
Ein Verbot des Cornerns, wäre es denn gewollt, wäre gar nicht so einfach. | |
Kioske sind normale Einzelhandelsgeschäfte. Eine Änderung der gesetzlichen | |
Grundlagen wäre erforderlich, um eine Schanklizenz zur Vorschrift zu machen | |
oder ein Ausschankverbot einzuführen. Doch ohne wirkliche Not darf nicht in | |
die Gewerbefreiheit eingegriffen werden. „Was die Kioske machen, deckt sich | |
mit dem aktuell geltenden Recht. Gefällt zwar den Klubbetreibern nicht, ist | |
aber völlig konform“, sagt Sorina Weiland vom Bezirksamt Hamburg-Mitte. | |
Auch Weiland sieht in Hamburg eine Veränderung in der Ausgehkultur. Die | |
Klubs müssten ihre Konzepte verändern, sodass die Rechnung wieder stimme, | |
sagt sie. „Sie müssen überlegen, woran das liegt, dass die Leute lieber | |
draußen sind.“ | |
Das italienische Restaurant „Vespucci“ auf der Reeperbahn versucht, mit der | |
Zeit zu gehen, und verkauft inzwischen auch Wodka-Mischen für vier Euro aus | |
einem Fenster zur Seitenstraße heraus. | |
Vielleicht werden die Kneipenwirte am Ende aber doch noch von der Politik | |
erhört: Am Freitag wurde bekannt, dass die Regierungsfraktionen in Hamburg | |
die Möglichkeit eines „begrenzten Alkoholverkaufsverbots an Brennpunkten“ | |
einführen wollen. Der Senat solle dazu die „rechtlichen Möglichkeiten | |
ausloten“. | |
Für die Kioske könnte es eng werden. | |
21 Apr 2018 | |
## AUTOREN | |
Cara Westerkamp | |
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