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# taz.de -- Kein Raum für Afrin-Proteste
> Die Bosporus-Universität in Istanbul gilt als eine der wenigen liberalen
> Inseln der heutigen Türkei. Damit scheint es vorbei, seitdem die Polizei
> Campus und Wohnheime stürmte
Bild: Hat an der Bosporus-Universität für Unmut gesorgt: die Absetzung der ge…
Von Verena Niepel und Volkan Ağar
Die vielen Cafés und kleinen Restaurants zwischen der Metrostation und dem
Eingang der Boğaziçi-Universität in Istanbul sind an diesem sonnigen
Freitag Ende März voll mit Studierenden. Sie rauchen und lachen, auf den
ersten Blick scheint die Stimmung gelassen, ungetrübt von den Ereignissen
der vergangenen zwei Wochen. Im Gegensatz zu vielen privaten Universitäten
in der Türkei gilt die renommierte staatliche Bosporus-Universität als
liberal und kritisch. In den vergangenen Tagen wurden dort jedoch kritische
Stimmen zum Schweigen gebracht – Festnahmen und Razzien inklusive.
Stein des Anstoßes war eine Aktion am Tag des Einmarschs der türkischen
Armee und verbündeter syrischer Milizen in Afrin. Am 19. März hatten
nationalistische Studierende aus dem „Klub für islamische Studien“ auf dem
Nordcampus der Universität die türkische Süßigkeit Lokum verteilt, um der
bei der Afrin-Militäroperation gefallenen türkischen Soldaten zu gedenken.
Andere Studierende protestierten mit einem Transparent dagegen, auf dem sie
schrieben: „Kein Lokum für Besatzung und Massaker“.
„Ein Massaker und eine Besatzung können nicht gefeiert werden“, sagt Tilbe
Akan. Die 23-jährige Studentin der westlichen Sprachen und Literatur ist
seit sieben Jahren Mitglied in der „Marksist Fikir Topluluğu“, einer
marxistischen Studentengruppe, die den Gegenprotest mitorganisierte und
auch an vielen anderen Universitäten vertreten ist. Während der besagten
Proteste kam es zu Rangeleien. Jemand habe gegen den Süßigkeitenstand
getreten, einige filmten die Ereignisse, erzählt Akan. Während des
Gesprächs bleibt sie ernst und selbstsicher, kein einziges Mal zögert sie
bei einer Antwort. Als sei sie gar nicht überrascht, was vor einer Woche an
ihrer Universität passiert ist.
Am Tag nach dem Vorfall demonstrierte eine Jugendorganisation der
Regierungspartei AKP gegen den Vorfall, in einer Erklärung nannte die
Gruppe die Studierenden „Terroristen“. Oft würden Konflikte wie diese nicht
intern gelöst, erzählt eine Politikstudentin, die lieber anonym bleiben
möchte. Dieses Mal allerdings rückte eine Polizeieinheit an. Am 22. März,
drei Tage nach den Auseinandersetzungen, begann eine Repressionswelle gegen
Studierende, die bis heute andauert. An jenem Donnerstag durchsuchte eine
Polizeieinheit frühmorgens Studentenwohnheime und Wohnungen von
Studierenden, bei der Razzia wurden fünf Studierende festgenommen. „Es war
gegen halb sechs, als die Polizei die Schlafräume gestürmt hat. ‚Auf den
Boden!‘, haben sie geschrien. Sie waren schwer bewaffnet und haben Masken
getragen“, erzählt Akan.
Nach weiteren Demonstrationen gegen die Razzien auf dem Campus, die die
Mitglieder der „Marksist Fikir Topluluğu“ organisierten, wurde auch sie in
Arrest genommen und erst nach zwölf Stunden wieder freigelassen. Derzeit
befinden sollen sich noch 16 Studierende in Polizeigewahrsam. „Acht Stunden
haben sie uns im Polizeiauto herumgefahren, weil es keinen Platz in den
Polizeistationen gab“, sagt Akan. In den Autos sei die Polizei
handgreiflich geworden. Nachprüfen lassen sich die Anschuldigen gegen die
türkische Polizei nicht. Allerdings legen die Aussagen des
Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan nahe, was Befürworter der
Afrin-Operation von den Demonstranten halten.
Am 24. März meldete sich Erdoğan zu Wort: „Diese kommunistischen,
vaterlandsverräterischen, terroristischen Jugendlichen greifen diesen Stand
an. Wir werden diesen Jugendlichen kein Recht geben zu studieren“. In den
darauf folgenden Tagen kam es zu weiteren Festnahmen und einer erhöhten
Polizeipräsenz an der Universität.
Seit den handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen Studierenden und
Polizei am 19. März bewacht die Polizei die Pforten des
Universitätsgeländes. Im Gespräch mit einigen Studierenden zeigt sich, wie
gedrückt die Stimmung auf dem Campus ist. „Selbst, wenn ich mit Freunden
rede, denke ich darüber nach, wer hinter mir steht“, erzählt die
Politikstudentin, die ihren Namen nicht in der Zeitung sehen will.
Generell habe sich viel verändert, seitdem die gewählte Rektorin per Dekret
abgesetzt und der neue Rektor eingesetzt wurde. Die junge Frau denkt, dass
sich die Bosporus-Universität weiter zu einem undemokratischen Ort
entwickelt. Für sie war das Vorgehen gegen die Studenten eine Drohung an
jene Akademiker der Universität, die eine Petition gegen den Krieg in Afrin
unterzeichneten. „Lass Afrin nicht das nächste Kobani werden“, hieß das
Statement, das auch internationale Unterstützung fand.
Serkan Yıldız* war am Tag des Protests gegen die Lokum-Verteiler auch am
Nordcampus. Der 25-jährige Physikstudent war gerade an die Uni gekommen, um
seine Masterarbeit zu schreiben. Dann sah er die Studierenden, die die
Süßigkeiten verteilten. Er sagt: „Wir haben schon so vieles über uns
ergehen lassen, aber das war einfach zu viel, mir haben die Hände
gezittert, als ich das sah.“ Yıldız, der selbst nicht Mitglied der
marxistischen Gruppe ist, schloss sich dem Gegenprotest spontan an, so wie
viele andere auch. „Es waren auch Leute dabei, die politisch nicht
organisiert sind“, berichtet er. Nach der Aktion gingen die Studierenden
auseinander, „ohne zu ahnen, dass das Ganze noch größer wird“, erzählt
Yıldız weiter.
Als die nationalistischen Studierenden am Abend Videoaufnahmen des
Gegenprotestes online stellten, dachte sich Yıldız immer noch nicht viel
dabei. Am nächsten Tag flog er für einen Kurzurlaub in den Iran. Dort
erreichten ihn die Nachrichten der Repressionswelle. Kommilitonen erzählten
ihm, dass die Polizei sogar in der Bibliothek Ausweise kontrolliere. Von
Freunden erfuhr Yıldız, dass seine Wohnung von Polizisten durchsucht worden
war. Aus Angst, festgenommen zu werden, entschied er, seinen Rückflug
verstreichen zu lassen und vorerst im Iran zu bleiben.
Yıldız meint, mit der Belagerung durch die Polizei sei eine rote Linie
überschritten. Und auch er stellt fest, wie sich die liberale akademische
Enklave, die die Bosporus-Universität sehr lange symbolisierte, zunehmend
verändert. Zugleich sagt er: „Die meisten Dozenten, Professoren und
Mitarbeiter hier sind fortschrittlich eingestellt, aber ihnen sind aufgrund
des Drucks von oben die Hände gebunden.“
Offiziell stellt sich die Hochschulleitung auf die Seite der Regierung. Das
Rektorat schreibt in einer Erklärung vom 21. März: „Den Angriff, der an
unserer Universität am 19. März auf einen Stand ausgeübt wurde, mit dem man
unserer Afrin-Märtyrer gedenken wollte, finden wir genauso wie alle
Vaterlandsliebenden inakzeptabel.“ Die Universität registriere den Vorfall
auch als „Angriff auf die Meinungsfreiheit“ und toleriere „keine Art von
Terror“. Die zuständigen Stellen der Universität hätten mit den nötigen
Untersuchungen und Disziplinarverfahren gegen die „Angreifer“ begonnen.
Trotzdem scheint diese Reaktion umstritten zu sein, wie das unabhängige
Onlinemedium Bianet berichtet. Demnach sollen am 30. März drei
widersprüchliche Mails an die Mitglieder der Universität verschickt worden
sein: In einer ersten Mail vom „Büro für Studienangelegenheiten“ am
Nachmittag heißt es, dass man die geschmacklosen Vorfälle, aber auch den
darauf folgenden Zugriff von außen, womit die Polizeirazzien gemeint sein
dürften, nicht unterstütze. Darin ist die Rede von einer „repressiven
Atmosphäre“, unter der wissenschaftliches Arbeiten nicht möglich sei. In
einer zweiten Mail, nur elf Minuten später, heißt es, dass die
vorhergegangene Mail ohne Einverständnis des Rektorats verschickt worden
sei und nicht die Haltung der Universität repräsentiere. In einer dritten
Mail, die eine Stunde später vom Rektorat der Universität verschickt wurde,
werden beide vorangegangenen Mails dementiert. Sie seien in Folge eines
Angriffs auf das universitäre System verschickt worden.
Tilbe Akan von der marxistischen Gruppe geht derweil momentan auf Anraten
ihres Anwalts nicht mehr in die Uni. Sie hält die schnelle und gewaltsame
Eskalation der Situation für geplant. „Das war alles eine Provokation“,
glaubt sie. Die Studentin erzählt, sie wisse über die möglichen Folgen von
politischem Widerstand in der Türkei. Und dass sie weiterprotestieren
werde. „Denn die Uni gehört uns!“, sagt Akan wütend, „nicht denen.“
* Name von der Redaktion geändert
4 Apr 2018
## AUTOREN
Verena Niepel
Volkan Ağar
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