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# taz.de -- Politikerinnen über Weltfrauentag: „Den Frieden werden Frauen er…
> taz gazete sprach mit drei Oppositions-Politikerinnen über den
> Weltfrauentag und feministische Kämpfe in der Türkei.
Bild: Frauendemo am 8. März in der Istanbuler Istiklal-Straße
Der Druck auf jene, die effektive oppositionelle Arbeit gegen die AKP
leisten, steigt mit jedem Tag. Derzeit sind neun Abgeordnete der HDP und
einer der CHP inhaftiert. Politik als Frau zu machen wird in einem
patriarchalen Klima, in dem Präsident Erdoğan sagt, dass „eine Frau, die
keine Mutter ist, nur eine halbe Mutter“ sei und einer Gesellschaft, die
zunehmend konservativer wird, immer schwieriger. taz gazete stellte drei
Politikerinnen Fragen über den Weltfrauentag und den Widerstand der Frauen
in der Türkei.
Filiz Kerestecioğlu, Parlamentsabgeordnete der Demokratischen Partei der
Völker (HDP) in Istanbul
Filiz Kerestecioğlu gehört zu den wichtigsten Frauen der feministischen
Bewegung in der Türkei – seit dem ersten organisierten Frauenprotest, der
1987 unter dem Titel „Solidarität gegen Schläge“ stattfand. Zugleich ist
Kerestecioğlu Mitbegründerin des Frauenhauses „Mor Çatı“. Zuletzt
beantragte die HDP-Abgeordnete im Parlament, dass der 8. März offiziell als
Feiertag anerkannt wird.
taz gazete: Wie ist die Stimmung dieses Jahr zum 8. März?
Filiz Kerestecioğlu: Ich erwarte einen 8. März voller Widerstand und
Enthusiasmus, wie ihn die Frauen eigentlich jedes Jahr zeigen. Egal, wie
schwer die Zeiten waren, wir sind auf die Straße gegangen und haben unsere
Rechte eingefordert. Und wenn man sie uns wieder nehmen wollte, haben wir
ernstzunehmenden Widerstand geleistet. Das liegt nicht zuletzt daran, dass
Frauen in der Türkei die wichtigsten Trägerinnen des Kampfes um Rechte und
Freiheiten sind. Keines unserer Rechte wurde uns von oben geschenkt. Die
meisten Konflikte mussten wir erst auf die Straße tragen, damit sie
überhaupt diskutiert wurden. Wir haben versucht, Lösungen aufzuzeigen. Da
wir unsere Rechte selbst erkämpft haben, wollten wir die Straßen nie
aufgeben. Deshalb denke ich, dass der 8. März wieder sehr kraftvoll und
sichtbar wird. Falls es anders kommt, sollte aber niemand die Hoffnung
aufgeben und das als Niederlage sehen. Wir leben in einer extrem
patriarchalen, repressiven und autoritären Phase. Es kann sein, dass sie
uns an unseren Aktionen hindern. Ich glaube aber, dass der Widerstand der
Frauen damit fertig werden und die gewohnte Stimmung herstellen kann.
Was sollten Ihrer Meinung nach dieses Jahr die wichtigsten Forderungen der
Frauen sein?
Leider ist Femizid nach wie vor das wichtigste Thema. Es ist eine der
schwierigsten Aufgaben in der Türkei, und auch weltweit, hier eine Änderung
zu erkämpfen. Das Patriarchat kann man nicht einfach so mal umstoßen. Eines
unserer wichtigsten Themen ist deshalb Femizid, ebenso die
gesellschaftliche Verbreitung von Vergewaltigung kleiner Kinder, sexueller
Missbrauch und der Krieg. Antimilitarismus und Kriegsgegnerinnenschaft
waren sicher immer ein Thema der Frauenbewegung, aber heute beschäftigt es
uns mehr denn je. Wir haben einen Slogan: „Unsere Körper gehören uns,
unsere Arbeit gehört uns, unsere Identitäten gehören uns –
Frauensolidarität“. Das ist nach wie vor unsere Devise. Wir versuchen, die
Verfügungsgewalt über unsere eigenen Körper zu bekommen, und wir müssen
weiter darum kämpfen, denn wir sind andauernd mit Ein- und Übergriffen
konfrontiert. Manchmal sind es körperliche Angriffe, Belästigung oder
Vergewaltigung, manchmal gibt es Eingriffe in unseren jeweiligen
Kleidungsstil, unser Verhalten, selbst unsere Mimik. Dagegen müssen wir
miteinander solidarisch sein. Gleichzeitig wird unsere Arbeit intensivst
ausgebeutet. Wenn es Korruption und extreme Armut gibt, kann es ja auch gar
nicht anders sein, als dass Frauen arm sind und ihre Arbeitskraft
ausgebeutet wird. Unter Deckmänteln wie Flexibilität wird so getan, als ob
weibliche Arbeit keine sei, und sobald die Arbeitslosigkeit steigt, werden
zuallererst Frauen gefeuert und nach Hause geschickt. Es ist Zeit, dass
Frauen einander in die Arme schließen und sich in Solidarität üben.
2011 haben zum ersten Mal Wahlen dazu geführt, dass mehr als 10% der
Abgeordneten Frauen waren, immerhin 14,3%. Die HDP ist im Juni 2015 zum
ersten Mal bei den Wahlen angetreten. Im Ergebnis wuchs der Frauenanteil
auf 17,6%. Heute sind wir wieder bei 14,7%. Was für ein Ort ist das
türkische Parlament für Frauen?
Wir waren nicht nur diejenigen, die quantitativ für eine höhere
Repräsentation von Frauen im Parlament gesorgt haben, sondern auch
qualitativ. Es gibt keine andere Partei, bei der Frauen so oft das Wort
ergreifen und einen so hohen Redeanteil haben. Die HDP ist eine Partei, die
auch im Parlament die Stimmen von Frauen hörbar macht. Frauen sprechen bei
uns nicht nur zu Frauenfragen. Wir kämpfen nicht dafür, auf diese Themen
festgelegt zu werden. Wir können auch über Wirtschaft sprechen und über
Kriegspolitik, über Kindesmissbrauch und Ökologie. Wir können überall
intervenieren und tun das auch. Solange uns keine Barrikaden vor die Nase
gesetzt werden. Und die gibt es bei uns nicht. Die HDP ist eine
Frauenpartei. Das zeigen wir auch im Parlament, wo wir knackige und
unerschrockene Reden halten. Beschlüsse des Frauenrates unserer Partei
stehen nicht zur Disposition. Was der Frauenrat beschließt, wird von der
Gesamtpartei umgesetzt. Wichtig ist bei der HDP das Prinzip der
Definitionsmacht von Frauen. In dieser Hinsicht sind wir eine Partei, die
Frauen stärkt. Ohne Fehler? Ganz sicher nicht. Die Männer wollen ihre
Rollen überhaupt nicht aufgeben. Wir haben zwar eine
geschlechterparitätische Führungsstruktur, aber in den meisten Orts- und
Kreisverbänden ist es Usus, dass der männliche Co-Vorsitzende das Sagen
hat. Das ist eines der ernsten Probleme, in der sich unsere Partei noch
sehr ändern muss.
## Selin Sayek Böke, Parlamentsabgeordnete der Republikanischen Volkspartei
(CHP) aus Izmir
Selin Sayek Böke ist Ökonomin und Mitglied im Parteivorstand der CHP.
Regelmäßig kritisiert sie ihre eigene Partei. Parteiintern kämpft sie gegen
die Ungleichheit zwischen Frauen und Männern. Zuletzt veröffentlichte sie
einen Aufruf mit dem Titel „Auf die Beine kommen“.
taz gazete: Was bedeutet der Weltfrauentag für Sie?
Selin Sayek Böke: Der internationale Tag der werktätigen Frauen erzählt an
jedem 8. März die Geschichte der Rechte, die Frauen hart erkämpft haben und
setzt diesen Kampf fort. Wir betonen die Aspekte weiblicher Arbeit und
Modernität. Heute müssen wir uns erneut in Erinnerung rufen, dass Frauen
eine progressive Kraft sind, die mit ihrer Arbeit die moderne Gesellschaft
nach vorne gebracht haben.
Vor dem CHP-Parteitag haben Sie ein Manifest veröffentlicht. Darin steht,
Sie wollen den Vormarsch der antisäkularen Politik und des gegenwärtigen
Wirtschaftsmodells stoppen. Diese Anliegen prägen auch Ihren Blick auf den
8. März. Warum?
Neoliberale Maßnahmen und politischer Islam sind die beiden fundamentalen
Probleme der Türkei. Deswegen ist es für uns wichtig, den 8. März als Kampf
für die arbeitende Bevölkerung und gleichzeitig als Ausdruck einer
progressiven, gesellschaftlichen Kraft zu erzählen. Deswegen legen wir Wert
darauf, ihn als „Tag der werktätigen Frauen“ zu bezeichnen. Das
Palastregime verabschiedet munter Maßnahmen, die unsere Ökonomie und unser
soziales Leben verändern. Es hat eine neoliberale Ordnung errichtet und
greift die Rechte der Werktätigen an. In sämtlichen Bereichen der
Gesellschaft werden ungesicherte Arbeitsverhältnisse geschaffen.
Arbeitskraft wird künstlich billiger gemacht. Davon sind Frauen am meisten
betroffen. Gleichzeitig verfolgt der politische Islam eine gleichförmige,
patriarchale Gesellschaftsordnung und zielt mit seinen Maßnahmen primär auf
Frauen ab. Wo sich Neoliberalismus und politischer Islam treffen, dort
entsteht eine Welt, in der Frauen nicht mehr leben können.
Was muss sich für Frauen alles ändern?
Frauen sind die größten Verliererinnen dieser Ordnung. Der politische Islam
und das türkische Wirtschaftsmodell konstruieren sich über Aggressionen
gegenüber Frauen. Wir dagegen wollen eine Ordnung, in der Frauen nicht mehr
„geothert“ werden und wo es keine Ausbeutung mehr gibt. Wir betonen die
Forderung nach gesicherten Arbeitsverhältnissen, einem Arbeitstag von 6
Stunden statt der verbreiteten 14 und nach gleicher Bezahlung für gleiche
Arbeit, wie sie Männer verrichten. Jeder Mensch muss mit Brot nach Hause
zurückkehren können. Gleichzeitig müssen Frauen noch etwas anderes im Leben
haben als Erwerbsarbeit: Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Wir kämpfen
um ein neues Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell. Im Zentrum dieses
Kampfes steht die Frau. Die republikanische Revolution war auch eine
Revolution der Frau. Wenn wir die republikanischen Ideale wiederbeleben
wollen, müssen wir betonen, dass Frauen eine progressive gesellschaftliche
Kraft sind. Deshalb ist die Woche um den 8. März sehr wichtig, und es geht
ja nicht nur um diese eine Woche. Unser Kampf wird mit langem Atem geführt.
Pervin Buldan, Parlamentsabgeordnete aus Istanbul und neu gewählte
Ko-Vorsitzende der HDP
Weil Selahattin Demirtaş, der ehemalige Co-Vorsitzende der HDP, seit
November 2016 inhaftiert ist, wurde Pervin Buldan im Februar für dieses Amt
gewählt. Sie ist ein Beispiel dafür, dass die HDP trotz Repressionen nicht
aufgibt. Am 15. Februar gingen im türkischen Parlament polizeiliche
Ermittlungsunterlagen gegen ihre Person ein, mit der über die Aufhebung
ihrer Immunität entschieden werden soll.
taz gazete: Fast jeden Tag diskutieren wir über furchtbare Fälle von Gewalt
gegen Frauen und Kindern. Während die AKP einen Gesetzesentwurf zur
Prävention von sexuellem Missbrauch vorbereitet, meldet sagt Erdoğan, dass
der Tatbestand des “Ehebruches“ in den Gesetzestext aufgenommen werden
muss. Was sagen Sie dazu?
Pervin Buldan: Sexueller Missbrauch von Kindern, ebenso Gewalt gegen Frauen
oder Belästigung und Vergewaltigung gehören zu einem Themenkomplex, zu dem
die Regierung bis dato keine Präventionsmaßnahmen erarbeitet hat. Wir
stehen vor einem tiefgreifenden Problem, das tagtäglich auszuufern scheint.
Dieser Themenkomplex hat nichts mit dem Thema Ehebruch zu tun. Erstens
dürfte das gar nicht erst als Vergehen bezeichnet werden, wenn Menschen mit
gegenseitigem Einverständnis zusammenkommen. Zweitens sehen wir, dass das
Ministerium für Familien- und Sozialpolitik nichts anderes als
Routinestatements zu bieten hat, wenn wieder ein Fall von Kindesmissbrauch,
Vergewaltigung oder Gewalt gegen Frauen bekannt wird. Solange keine
Maßnahmen ergriffen werden, um Täter daran zu hindern, und keine
abschreckenden Strafen verhängt werden, wird das Problem wachsen.
Wie stark haben die Repressionen gegen die kurdische Bewegung in den
letzten drei Jahren kurdische Frauen im Kampf für die Befreiung der Frau in
der Türkei beeinträchtigt?
Die kurdische Frauenbewegung ist nicht schwächer geworden, trotz aller
Repression. Im Gegenteil: Sie ist noch stärker geworden. Insbesondere beim
Thema Krieg in den kurdischen Gebieten der Türkei haben wir einen hohen
Organisationsgrad erreicht. Die kurdische Frauenbewegung stellt sich gegen
den Tod und gegen die Repression. Sie hat es dabei immer für sehr wichtig
befunden, Seite an Seite mit der Frauenbewegung in der Türkei zu kämpfen.
Bei den Feiern zum 8. März werden Sie auch dieses Jahr die Stärke der
kurdischen Frauenbewegung auf den Kundgebungsplätzen sehen. Und wenn Sie
sich die Bilder von unserem jüngsten Parteikongress vor Augen halten, dann
sehen Sie, dass der Frauenanteil sehr hoch war. Das hat uns alle sehr
ermutigt und gestärkt. Ich glaube, dass sich dieser Enthusiasmus und
Kampfgeist in unseren Veranstaltungen und Aktionen in der ersten Märzwoche
widerspiegeln wird. Wir wollen die Message verbreiten, dass Frauen gegen
Belästigung, Vergewaltigung, Repression und Tyrannei zusammenstehen und
zusammenhalten können. Den Frieden in unserem Land werden wir Frauen
errichten. Der Ungerechtigkeit und Erosion des Rechtssystems werden wir
Frauen ein Ende setzen. Wir werden niemals die nachgeordnete Rolle
akzeptieren, die man uns Frauen aufzwingen möchte.
Die Interviews mit Filiz Kerestecioğlu und Pervin Buldan sind zuerst im
türkischen Magazin Express erschienen.
Übersetzung: Oliver Kontny
7 Mar 2018
## AUTOREN
Siren İdemen
Erk Acarer
İrfan Aktan
## TAGS
taz.gazete
Politik
Schwerpunkt Türkei
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