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# taz.de -- Kurdische Geflüchtete aus der Türkei: Afrin in Halle
> Das Leben von Hasan Polat und İlhan Çetin war in der Türkei geprägt von
> Repression und Furcht vor dem Gefängnis. Ihre Asylanträge wurden trotzdem
> abgelehnt
Hasan ist acht Jahre alt, als er 1993 zusammen mit seiner Mutter und den
neun Schwestern unterwegs von Mardin nach Çaykara ist, in sein Heimatdorf
im Südosten der Türkei, gleich an der Grenze zu Syrien gelegen. Der Junge
ist krank, er leidet an familiärem Mittelmeerfieber, einer weit
verbreiteten Erbkrankheit, die durch sporadisch gekennzeichnete
Fieberschübe gekennzeichnet ist. Er bekommt Medikamente. Noch mit der
Injektion im Arm war er zu Beginn der Reise auf den Pferdewagen geklettert.
Unterwegs treffen sie auf einen Militärkonvoi, die Soldaten verhören die
Familie. Die Mutter kann kein Türkisch, Hasan nur ein wenig. Die Soldaten
fragen nach Hasans Vater und Onkel.
Was Hasan von diesem Tag vor 25 Jahren in Erinnerung bleibt: Soldaten, die
schimpfen und fluchen. Soldaten, die seiner Mutter die gläserne
Serumflasche aus der Hand reißen und auf den Boden werfen. Soldaten, die
auf ihn deuten und die Mutter anbrüllen: „Wächst dieser Bastard heran, wird
er Terrorist!“
Heute lebt Hasan Polat in Magdeburg in Sachsen-Anhalt. Er organisiert hier
wöchentlich Kundgebungen aus Protest gegen die türkische Militäroffensive
in Afrin. In der Türkei gälte so eine Veranstaltung als
Terrorunterstützung. Dort wäre Hasan ein „Terrorist“ – so wie die
türkischen Soldaten es schon damals vor 25 Jahren prophezeit hatten.
## Kann Polat in der Türkei sicher leben?
Den Angaben des türkischen Innenministeriums zufolge gerieten seit Beginn
der Offensive auf die syrisch-kurdische Stadt Afrin am 20. Januar dieses
Jahres bisher über 800 Menschen in Haft, und dies einzig wegen ihrer
Beiträge in den sozialen Medien über den Krieg. Die Bundesrepublik
Deutschland aber sieht dennoch keine Vorbehalte, Hasan Polat in die Türkei
zurückzuschicken: Sein Asylantrag wurde abgelehnt. Für das Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge spricht nichts dagegen, dass Hasan Polat in der
Türkei sicher leben kann.
Zu Hause in Çaykara, nur 200 Meter vom syrischen Kobani entfernt, wurde
Hasan von klein auf von Militär und Gendarmerie drangsaliert. „Sie kamen
einfach ins Haus, setzten sich hin, kippten Zucker ins Salz und gossen Öl
darüber. Stundenlang hockten sie bei uns im Wohnzimmer und warteten darauf,
dass meine älteren Brüder heimkommen“, erzählt er. Wie seine Familie
arbeitete Hasan lange Zeit in der Landwirtschaft. Dann musste er zum
Militär, so wie alle jungen Männer mit türkischer Staatsangehörigkeit. Doch
Polat wollte die türkische Uniform nicht tragen.
2013 wurde er am Flughafen der Mittelmeermetropole Izmir bei einem
Ausreiseversuch erwischt. Er hätte sich anschließend bei einer
Rekrutierungsstelle melden müssen, tat es aber nicht. Stattdessen fuhr er
zuerst in sein Dorf und dann nach Kobani. Dort, so sagt er, habe er sich
einen falschen syrischen Pass besorgt. 2014 griff der „Islamische Staat“
(IS) Kobani an. Polats Heimatdorf wurde zu einem Zentrum der Hilfe und
Unterstützung für die Menschen, die aus Kobani flohen.
## Hausdurchsuchung, Festnahme, Freilassung – und die Flucht
Nach der Vertreibung des IS verstärkte die türkische Armee den Druck auf
die Grenzregion. Eines Morgens, so erzählt es Hasan Polat, habe es um fünf
Uhr an der Haustür des Bauernhofs geklopft. Er habe glaubt, ein Tier sei
erkrankt oder stünde kurz vor dem Werfen, doch als er die Tür geöffnet
habe, hätten ihm Gendarmen gegenübergestanden. Auf die Fragen nach einem
Durchsuchungsbefehl erfolgte die Antwort, so erinnert sich Polat: „Was
fällt dem denn ein, nach Durchsuchungsbefehlen zu fragen!“
Er sei zu Boden geworfen und mit Handschellen gefesselt worden, sagt er.
Seine Frau habe versucht einzugreifen, sei gestürzt und habe sich verletzt.
So lernte auch Hasans Polats kleiner Sohn, genau wie einst der Vater, die
Macht der türkischen Armee schon früh in seinem Leben kennen. Durch die
Kontakte des Hofbesitzers zu Abgeordneten der türkischen Regierungspartei
AKP kam Hasan frei, doch sein Arbeitgeber habe ihm anschließend bedeutet:
„Mehr kann ich nicht für dich tun, hör auf mich und geh fort!“
Die Familie beschloss, zu Hasan Polats Schwester nach Schweden zu gehen. Im
September 2016 flogen sie nach Deutschland und fuhren mit der Bahn weiter
nach Skandinavien. Als sein Sohn auf der Strecke durch Dänemark einen
Soldaten in Uniform im Zug sah, fing er an zu schreien. Als das Visum
ablief, stellte Polat einen Asylantrag. Nach einer Odyssee von Camp zu Camp
wurde die Familie gemäß dem Dubliner Abkommen nach Deutschland abgeschoben,
dem Land ihrer Ersteinreise in die EU. Sie kommt in eine
Asylbewerberunterkunft im sachsen-anhaltischen Halberstadt.
Dort lernte Hasan Polat İlhan Çetin kennen, einen türkischen Kurden wie er.
Sie protestierten gemeinsam gegen die miesen Bedingungen in der Unterkunft
und gegen die Ausgabe von Lebensmitteln mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum.
So begann ihr politisches Engagement in Deutschland. Doch es könnte rasch
enden, denn auch Çetins Asylantrag wurde abgelehnt, so wie der von Polat.
## Wie sich die Schlinge zuzog
İlhan Çetin entstammt demselben Jahrgang wie Hasan Polat, beide wurden 1985
geboren. Bevor er nach Halle kam, lebte Çetin in Istanbul und studierte
Philosophie. Als er 2010 an nicht genehmigten Kundgebungen teilnahm, sei er
wegen Mitgliedschaft in und Propaganda für eine terroristische Vereinigung
angeklagt worden, berichtet er. 25 Monate lang habe er im Gefängnis
gesessen, zunächst in Metris, dann im Hochsicherheitsgefängnis in Kandıra.
Im Oktober 2012, mit dem Beginn der hoffnungsvollen Friedensphase in der
Türkei, kam er so grundlos frei, wie er zuvor verhaftet worden war,
berichtet Çetin.
Als sich mit der Etablierung der HDP die Stimmung für die Kurden in der
Türkei positiv zu verändern begann, wurde Çetin Wahlkampfhelfer bei der
kurdischen Partei. Als die HDP bei den Wahlen 2015 die 10-Prozent-Hürde
übersprang und damit ins Parlament von Ankara einzog, endete der
Friedensprozess. Fünf Tage nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 wurde
der Ausnahmezustand verhängt, den Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu als
„den eigentlichen Putsch“ bezeichnete. Seither wird das Land per Dekret
regiert.
Ilhan Çetin und seine Frau, die in einem ähnlichen Prozess vor Gericht
stand, spürten, wie sich die Schlinge zuzog. „Als Pässe für ungültig
erklärt wurden, war das für uns ein Signalschuss.“ Auf illegalen Wegen
reisten sie nach Deutschland. Sie strandeten in Halle.
Ilhan Çetin und Hasan Polat organisieren in Halle und Magdeburg jede Woche
Aktionen zur Unterstützung der Kurden von Afrin. Gegen die Afrin-Offensive
protestieren auch Kurden aus Syrien und dem Irak. İlhan Çetin meint, Afrin
habe die Kurden in Halle vereint: „Es geht nicht allein um Kurden, es geht
um den Freiheitskampf.“
## „Das heißt nicht, dass wir nichts tun können“
In einem Friseurladen grüßen Landsleute aus dem Iran und Irak die Proteste
auf der Straße mit dem Friedenszeichen. Es ist eiskalt, die Beteiligung an
der Kundgebung mäßig. Çetin ist das egal: „Halle ist eine Kleinstadt, aber
das heißt doch nicht, dass wir nichts tun können.“ Hasan Polat beißt vor
Kälte die Zähne zusammen und ruft: „Raus, raus, deutsche Panzer raus aus
Afrin!“ und „Faschist Erdoğan!“
Wenn es noch kein rechtskräftiges Strafurteil gibt, ist das eine Garantie
dafür, dass Hasan Polat und İlhan Çetin dort sicher wären?
In der Türkei ist besonders die kurdische Opposition mit
Terrorismusvorwürfen konfrontiert, die durch einen breiten Fächer
schwammiger Formulierungen in den entsprechenden Dekreten gestützt werden.
An einer Stelle in İlhan Çetins alter Anklageschrift habe in der Auflistung
der Straftaten, die ihm zur Last gelegt werden, ein anderer Name als sein
eigener gestanden, erinnert er sich – ein Beispiel dafür, wie die
Gerichtsbarkeit in der Türkei funktioniert.
## Das Risiko, in einem Gefängnis vergessen zu werden
Im Rojava-Verein muss man nicht, so wie Hasan Polat, Mitglied sein, um in
der Türkei in Haft zu geraten. Als Straftat gelten bereits Spenden für den
Verein, dem die Türkei terroristische Propaganda vorwirft. Özlem Dalkıran,
die mit weiteren MenschenrechtlerInnen, darunter dem Deutschen Peter
Steudtner, im Juli 2017 in Istanbul festgenommen worden war, wurde unter
anderem vorgeworfen, für den Rojava-Verein gespendet zu haben.
Bei der Beurteilung von Asylanträgen in Deutschland wird für Journalisten
ein bestehendes Risiko angenommen. Für Kurden, die in der Türkei politisch
aktiv waren, ist das nicht der Fall. Es kommt vor, dass Aktionen, die in
einem demokratischen Land im Rahmen einer Aussage zu berücksichtigen wären,
gleichbehandelt werden mit der „Mitgliedschaft in einer bewaffneten
terroristischen Vereinigung“.
Jetzt droht Hasan Polat und İlhan Çetin die Abschiebung in die Türkei und
das Risiko, in einem Gefängnis vergessen zu werden.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
23 Mar 2018
## AUTOREN
Ali Çelikkan
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