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# taz.de -- Mein Überleben im russischen Knast: Manche schlucken rostige Nägel
> Um der Gewalt im Gefängnis zu entgehen, greifen einige Gefangene zu
> drastischen Mitteln. Eine Kurzgeschichte eines Ex-Häftlings.
Bild: Gefängniszelle in Russland
Die Strafkolonie ist ein Mikromodell unserer Gesellschaft. Alle Phänomene
und Prozesse, die in der Gesellschaft vorkommen, gibt es dort auch – nur in
übersteigerter und grotesker Form. In einer Strafkolonie bestimmt nicht das
Gesetz die Ordnung des Lebens, sondern der Grad der Herrschsucht des Chefs
und seines Umfelds. Nicht umsonst heißt der Leiter der Kolonie Chosjain,
Hausherr. Und das ist er auch, nicht mehr und nicht weniger: Herr des
Hauses. Die Geschlossenheit des Systems generiert uneingeschränkte Macht
und jede Art von Günstlingswirtschaft, sprich: absolute Rechtlosigkeit.
Warum treten Gefangene in den Hungerstreik, zerschneiden sich die Pulsadern
oder schlitzen sich den Bauch auf? Wo liegt für einen Menschen die Grenze
des Erträglichen? Was bringt ihn zu solchen Verzweiflungstaten?
Andrei lernte ich in einer Kolonie des allgemeinen Strafvollzugs kennen.
Quer über seinen ganzen Bauch zog sich eine tiefe, monströse Narbe, die mit
weiten Stichen schlampig vernäht war. Er hatte sich in Untersuchungshaft
mit einer Satotschka, einem selbstgemachten Messer, den Bauch
aufgeschlitzt, als einziges Mittel gegen die permanente Schikane. Immer
wieder hatte man ihn verprügelt und gefoltert, um ihn dazu zu bringen,
Verbrechen zu gestehen, die er nicht begangen hatte. Eine in Russland
eigentlich sehr gängige Geschichte.
In der Kolonie kann einmal ein Mithäftling zu mir und fragte mich um Rat.
Die polizeilichen Ermittler hatten ihm ein attraktives Geschäft
vorgeschlagen – nachdem sie ihn vorsorglich erst verprügelt und dann
gedroht hatten, ihn zu vergewaltigen.
Er sollte ein Geständnis ablegen. „Was kostet dich das schon?“, flöteten
die Beamten. „Du kriegst höchstens ein halbes Jahr, das ist doch nichts.
Wir lassen dich auf Bewährung raus, da bleibst du dann noch für zwei
Jahre!“
Was soll man sagen, davon haben alle was! Die Bullen kassieren eine Prämie
und werden befördert, weil sie so gut gearbeitet haben, und der Knacki
kommt früher raus!
Bei Andrei war die Sache ernster. Als Wiederholungstäter, den man erst vor
Kurzem aus dem Gefängnis entlassen hatte, war er ein begehrtes Opfer und
eine leichte Beute. Man zwang ihn, einen Mord zu gestehen. Ihm blieb kaum
eine Wahl. Er schnitt sich den Bauch auf und ließ seine Eingeweide
heraushängen. Es war kein Selbstmordversuch, sondern eine pure
Verzweiflungstat, der einzige Weg aus diesem Untersuchungsgefängnis heraus
führte ins Krankenhaus.
Man muss dazu sagen, dass diese Einrichtung, die sich in der Ortschaft
Pakino in der Oblast Wladimir befindet, berüchtigt war für die dort
üblichen Foltermethoden. Andrei war nicht der einzige Häftling, der zu
diesem Mittel gegriffen hatte. Damals fand ich seine Geschichte ziemlich
krass, ich hätte mir nie vorstellen können, dass ich mal zu etwas Ähnlichem
fähig wäre. In gewisser Weise war Andrei mein Mentor und ideologischer
Vordenker.
## Wie öffnet man sich die Adern?
„Vor allem musst du aufpassen, dass du deinen Darm nicht verletzt“,
erklärte er mir. „Und du darfst vorher nichts essen, aufschneiden muss man
sich auf nüchternen Magen!“
„Und nachdem man dich wieder zusammengenäht hatte, was war dann?“,
erkundigte ich mich.
„Dann hab ich mich aufgehängt“, antwortete Andrei nüchtern.
Ich habe im Laufe der Zeit viele solcher Geschichten von meinen
Mithäftlingen gehört. Wie man sich die Adern öffnet, den Bauch aufschlitzt,
die Kehle durchschneidet oder die Halsschlagader abdrückt. Die einen machen
es wegen der äußeren Wirkung, andere meinen es ernst, sie verfolgen damit
weitreichende Ziele. In der Regel verstümmeln sich Häftlinge, um aus dem
Lager rauszukommen, ins Gefängniskrankenhaus.
Die Geschichte kennt eine Unzahl noch exotischerer, aber nicht weniger
effektiver Methoden, sich zu verkrüppeln: Manche Sträflinge schlucken zum
Beispiel rostige Nägel oder Nähnadeln oder sonst irgendwelche Gegenstände.
In so einem Fall rettet dich nur noch eine Operation.
Auf Grund eines neuen Gesetzes wurde auf einmal mein Strafmaß
überraschenderweise herabgesetzt, theoretisch bot sich mir sogar die
Chance, auf Bewährung freizukommen. Ich wurde aus der Kolonie strengen
Vollzugs in eine Kolonie des allgemeinen Vollzugs in der Stadt Wladimir
verlegt.
Dort begann sofort ein regelrechter Krieg mit der Lagerverwaltung. Meine
Kerkermeister wollten mich partout nicht auf Bewährung rauslassen. Kaum
hatte ich den Antrag auf Strafaussetzung zur Bewährung geschrieben, schon
stempelte man mich zum Querulanten und verpasste mir eine Zusatzstrafe. Mit
so einer himmelschreienden Ungerechtigkeit konnte ich mich nicht abfinden,
ich reichte Klage gegen die örtliche Gefängnisverwaltung ein und focht die
mir ohne Grund auferlegte Disziplinarstrafe an.
Das war unverzeihlich. Von da an ging das Theater erst richtig los. Als
Erstes brummte man mir gleich noch zwei Zusatzstrafen auf. Aber das reichte
ihnen noch nicht. Jetzt wollten sie mich richtig fertigmachen, und zwar mit
Hilfe meiner Mithäftlinge. Sie fingen an, die ganze Truppe gegen mich
aufzuhetzen. Sie ließen die Männer 24 Stunden am Tag schuften, ohne
Ruhepause, ohne eine Kopeke Lohn – und Schuld daran war nur ich.
„Den ganzen Ärger habt ihr nur wegen Perewersin“, verkündeten die
Kerkermeister der ganzen Abteilung. „Irgendwas passt ihm nicht, und deshalb
hat er sich über uns beschwert! Klärt das mit ihm!“
Es kamen Boten zu mir.
„Man darf nicht seine privaten Angelegenheiten über die der anderen
stellen, deinetwegen leidet die ganze Abteilung“, redeten die Gefangenen
auf mich ein. Es kam zu Provokationen. Sie wollten mich dazu bringen, mich
auf irgendwelche Händel mit anderen Häftlingen einzulassen, damit ich dann
verprügelt würde und sie mir noch eine Zusatzstrafe aufdrücken konnten.
Mir war schnell klar, worauf die Sache hinauslief, und weil ich keine
Sekunde lang daran zweifelte, dass das keine leeren Drohungen waren, traf
ich eine Entscheidung. Ich wollte leben, aber die Klage vor Gericht wollte
ich auch nicht zurückziehen. Was also tun? Ich musste schleunigst aus
dieser verdammten Kolonie wegkommen.
Ich grübelte lange darüber nach, was mir überhaupt für Möglichkeiten zur
Wahl standen, und nachdem ich lange genug nachgedacht hatte, traf ich eine
schwere Entscheidung. Wirklich schlimm war die Vorstellung, was mein Sohn
vielleicht denken würde, wenn der Versuch daneben ging, genauer gesagt,
wenn er nicht daneben ging. Ich wollte nicht, dass er mich für einen
Selbstmörder hielt. Mein Plan wurde buchstäblich Schritt für Schritt
festgelegt …
Zur Durchführung bestimmte ich den Abendappell. Es war ein düsterer
Wintertag, nasser Schnee fiel. Die Gefangenen liefen in dem kleinen
Innenhof herum und warteten auf das Klingelzeichen. Wenn es ertönt, stellen
sich die Häftlinge in einer Reihe auf, und der Appell beginnt. Ich halte
mich ganz ruhig unter den anderen auf und tue so, als würde ich mich an
einem Gespräch beteiligen.
## Rasierklinge in der Hand
In Wirklichkeit bekomme ich nichts von dem mit, was sie sagen, alle meine
Gedanken sind bei meinem Vorhaben. Unter meiner zugeknöpften Wattejacke
sind Brust und Bauch nackt. Die Anstaltsjacke habe ich aufgeknöpft und so
zurechtgerückt, dass sie nicht stört. Der kalte Wind beißt auf der Haut. In
meiner rechten Hand verberge ich eine Rasierklinge. In der Brusttasche
steckt eine Ersatzklinge, für alle Fälle. Das Klingeln ertönt. Jeder
Sträfling hat einen bestimmten Platz in der Reihe. Wir stellen uns auf und
warten. Mein Herz schlägt wie wild, ich bekomme kaum Luft.
„Iwanow!“, brüllt der Diensthabende.
„Pjotr Nikolajewitsch“, antwortet der Aufgerufene und tritt vor. Ich höre
die Namen: Nikolajew, Lisotschkin, Panin.
Als Nächstes kommt mein Name.
„Perewersin“, höre ich.
„Wladimir Iwanowitsch“, schreie ich, trete aus der Reihe. Ich zähle die
Schritte. Eins, zwei – ich drehe dem Diensthabenden den Rücken zu, entferne
mich von der Reihe und öffne im Gehen die Wattejacke.
Drei, vier – verwundert starre ich auf meinen nackten Bauch und auf die
Klinge in meiner rechten Hand. Fünf, sechs – die Klinge dringt in den Bauch
wie in weiche Butter.
Der erste Schnitt war der schwerste, er ging nicht tief genug, aber er war
der wichtigste. Danach überschwemmt dich eine Woge von Adrenalin, du spürst
keinen Schmerz mehr und drehst völlig ab. Mein Plan war gewesen, mir die
Bauchhöhle zu öffnen, die Eingeweide herauszuholen und ihnen folgende Worte
entgegenzuschleudern: „Ihr wolltet mein Blut? Hier, fresst, ihr verdammten
Bastarde!“
## Keine Kraft mehr
Bei dem, was dann weiter geschah, habe ich mir selber wie von außen
zugesehen, wie von irgendwoher ganz weit oben. Die verdutzten Gesichter der
Diensthabenden, die aufgerissenen Münder, wie im Schrei erstarrt.
Die Wärter sind Hals über Kopf auf mich zugestürzt, haben mich umringt,
sich auf mich geworfen, mich von allen Seiten gepackt. Die Kräfte waren
klar ungleich verteilt. Aber ich hatte ja sowieso keine Kraft mehr und auch
nicht die Absicht, Widerstand zu leisten, ich keuchte nur mit schwacher
Stimme: „Freiheit für die politischen Gefangenen!“
Die Wunden waren nicht ernst genug, alles blieb an seinem Platz, meine
Gedärme an ihrem, und ich an meinem, in der Kolonie. Allerdings kam ich in
eine andere Abteilung, in die elfte, mit verbesserten Haftbedingungen.
Zurückblieben ein paar unbedeutende Narben auf meinem Bauch, zur
Erinnerung.
Lange konnte ich mich der besseren Haftbedingungen in der Elften nicht
erfreuen, ich wurde wieder in eine andere Kolonie verlegt. Bevor ich meine
Reise antrat, rief mich der stellvertretende Leiter der Kolonie, ein
Hauptmann Rybakow, zu sich und fragte mich: „Sag mal, Perewersin, du
Nervensäge, warum bist du uns eigentlich so auf den Senkel gegangen mit
deinen Beschwerden und so weiter? Wir haben doch gar nichts damit zu tun!
Uns bist du scheißegal, die in Moskau haben uns angerufen, wir sollten dich
triezen!“
Zuerst wollte ich nicht glauben, dass irgendwer in Moskau ein so
krankhaftes Interesse an meiner Person haben sollte.
Diese Geschichte hat mir später aber noch sehr genützt. In der nächsten
Kolonie, von wo aus ich dann entlassen wurde, haben die Kerkermeister mich
in Ruhe gelassen, weil sie schon informiert waren, was sie von mir zu
erwarten hatten, und weil sie keinen Ärger haben wollten. Und das Wissen
darüber, dass ich diesen Trick jederzeit mit Leichtigkeit wiederholen kann,
lässt mich ruhig und bequem leben.
Aus dem Russischen von Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann
Könnten Sie in einem russischen Gefängnis überleben? Wladimir Perewersin
hat basierend auf den Knastregeln ein Quiz entwickelt, das einem verrät,
welche Chancen man dort hätte. Sie finden es online unter:
[1][www.taz.de/knasttest]
24 Mar 2018
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## AUTOREN
Wladimir Perewersin
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hat ein Quiz entwickelt, das einem verrät, welche Chancen man dort hätte.
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