# taz.de -- Politische Polarisierung in der Türkei: Kurz vor der Karambolage | |
> Eine Studie zeigt, wie tief die Polarisierung in der Türkei in sämtliche | |
> Gesellschaftsschichten eingedrungen ist. Höchste Zeit, auf die Bremse zu | |
> treten. | |
Bild: Wenn niemand einen Schritt zurück macht, knallt's | |
Auf einer schmalen Straße in Ankara stießen zwei Autos einander beinahe die | |
Motorhauben ein. Denn beide Fahrer sahen es nicht ein, zurückzusetzen. | |
Hinter jedem der beiden stauten sich weitere Autos, und bald stieg ein | |
heftiges Gehupe und Geschrei zum Himmel. Einer der beiden Spannungsherde | |
stieß gegen den anderen eine Beleidigung aus und alles eskalierte. Um ein | |
Haar wäre es zu einer Prügelei gekommen. | |
Genau in diesem Zeitpunkt verließ eine Frau mittleren Alters ein Wohnhaus | |
in dieser Straße und redete mit einer Stimme voller Selbstvertrauen | |
beruhigend auf alle ein. Sie überzeugte beide Fahrer, dass der Situation | |
mit Sturheit nicht beizukommen sei. So stiegen beide wieder in ihre Autos | |
und setzten zaghaft zurück, bis die Verstopfung abfließen konnte, ohne dass | |
sich jemand eine blutige Nase geholt hätte. | |
Die Professorin Pınar Uyan Semerci und der wissenschaftliche Mitarbeiter | |
Emre Erdoğan von der Istanbuler Privatuniversität Bilgi haben im November | |
und Dezember 2017 eine Studie in 16 Provinzen der Türkei mit 2004 | |
volljährigen Personen durchgeführt. Auf Grundlage ausführlicher | |
qualitativer Interviews konnten sie Daten erheben, die klar zeigen, dass | |
wir die Konfliktszene aus der kleinen Ankaraner Straße durchaus auf die | |
Türkei insgesamt verallgemeinern dürfen. | |
Wahrscheinlich ist die einzige Akteurin aus dieser von mir erlebten Szene, | |
die kein verallgemeinerbares Pendant in der Gesamttürkei hat, die Frau | |
mittleren Alters, der es gelingt, die Streitparteien kurz vor der | |
körperlichen Auseinandersetzung zur Raison zu rufen und alle zu überzeugen, | |
einen anderen Weg zu versuchen. | |
## Die Alarmglocken müssten läuten | |
Die Studie von Semerci und Erdoğan führt vor Augen, wie tief die politische | |
Polarisierung in der Türkei in sämtliche Gesellschaftsschichten | |
eingedrungen ist. Wenn 68 Prozent der Befragten nicht möchten, dass ihre | |
Kinder mit den Kindern von Anhänger*innen einer anderen Partei spielen, | |
müssen alle Alarmglocken läuten. In jeder Gesellschaft. Die Studie zeigt, | |
dass die Grenzen der Toleranz gegenüber Unterschieden und Andersheiten | |
beängstigend zusammengeschrumpft sind. | |
78,7% der Teilnehmenden würden ihre Tochter nicht in die Ehe mit einem Mann | |
geben, dessen Familie eine andere Partei wählt, beziehungsweise für ihren | |
Sohn keine Frau aus einem solchen Hause akzeptieren. 73,7% möchten nicht | |
mit Menschen zusammenarbeiten, die eine andere Partei wählen und 69,6% | |
nicht neben Menschen wohnen, die dies tun. | |
Die allermeisten Teilnehmenden schreiben den Anhänger*innen der je eigenen | |
Partei nur die besten Attribute zu: „Sie tun etwas für unser Land“ (92 | |
Prozent), „vaterlandstreu“ (91%), „klug“ (84%), „großzügig“ (83%), | |
„aufgeschlossen“ (ebenfalls 83%). Alle schlimmen Attribute hingegen werden | |
als Eigenschaften der Anhänger*innen anderer Parteien identifiziert: | |
„Stellen eine Bedrohung für unser Land dar“ (86%), „egoistisch“ (84%), | |
„heuchlerisch“ (84%), „grausam“ (83%), „eingebildet“ (80%), „fana… | |
(74%). | |
Das heißt: Über 80 Prozent unserer Gesellschaft gehen davon aus, dass die | |
Anhänger*innen der je eigenen Partei allen anderen Menschen moralisch | |
überlegen sind und sind der Meinung, dass sämtliche positiven Eigenschaften | |
bei ihnen selbst und sämtliche negativen Eigenschaften bei den politischen | |
Gegner*innen vertreten sind. Die Hälfte aller Teilnehmenden spricht sich | |
dafür aus, dass die Telefongespräche der „Gegenseite“ abgehört werden und | |
hält es nicht für „angemessen“, dass sie Pressekonferenzen geben, | |
Demonstrationen oder Versammlungen organisieren oder spezifische | |
Bildungsangebote für sich fordern. | |
## Spirale des Schweigens | |
63,9 % der Befragten sprechen über den Ausnahmezustand, der seit dem 20. | |
Juli 2016 im gesamten Land gilt, mit Familienangehörigen und 57,1% mit | |
ihrem näheren Umfeld. Nur 26,7% äußern sich zu diesem Thema auf Facebook | |
und 23,8% auf Twitter. Wenn mehr als 70% der Menschen sich damit | |
zurückhalten, ihre Ansichten zum Thema Ausnahmezustand im öffentlichen Raum | |
zu äußern, ist die Einschränkung der Meinungsfreiheit recht weit gediehen. | |
Die Studie wurde am 5. Februar 2018 veröffentlicht und enthält die Angabe, | |
dass 84,5 Prozent der Bevölkerung davor Angst haben, dass die Türkei in | |
einen Krieg mit einem Nachbarland verwickelt wird. Am Tag der | |
Veröffentlichung war das bereits Realität: Am 20. Januar 2018 war die | |
Türkei in Afrin einmarschiert. Wenn also diese 84,5%, die eine solche | |
Situation befürchtet hatten, so gut wie keine öffentliche Reaktion zeigen, | |
ist das ein Teil der Spirale des Schweigens. | |
Auf der anderen Seite ist es in der Türkei zwar seit der Schließung der | |
oppositionellen Fernsehsender im Ausnahmezustand so gut wie unmöglich | |
geworden, Sendungen auszustrahlen, die nicht der Kontrolle der Regierung | |
unterliegen, aber 79,9% der Befragten gaben an, nach wie vor das Fernsehen | |
als Hauptinformationsquelle zu nutzen. 80 Prozent der Gesellschaft | |
informieren sich also insbesondere mittels regierungstreuer | |
Fernsehsendungen. | |
Die Ergebnisse der Studie halten auch einige für Europa und die USA | |
wichtige Botschaften bereit. Denn 28,4% der Gesellschaft halten | |
Aserbaidschan für ein „befreundetes Land“ und 12,1% Russland. Demgegenüber | |
halten 54,3% die USA für eine Bedrohung für die Türkei und 14% Israel. | |
Allerdings sind sage und schreibe 87,6% der Befragten der Meinung, dass | |
Europa die Türkei spalten wolle und 77,3% bewerten Reformen in Hinblick auf | |
eine EU-Mitgliedschaft als „Einknicken“. Der größte Prozentsatz an | |
EU-Befürworter*innen unter den Befragten findet sich bei Wähler*innen der | |
prokurdischen HDP. 49% der HDP-Anhänger*innen sprechen sich für eine | |
EU-Mitgliedschaft aus. | |
## Einig nur in der Xenophobie | |
Wenn Sie jetzt fragen, was eine derart zerklüftete Gesellschaft, in der | |
niemand mehr Andersdenkende ertragen kann und alle vor „fremden Mächten“ | |
und Krieg Angst haben, dennoch zu einen vermag, muss ich Sie mit einer | |
traurigen Antwort konfrontieren, die Semerci und Erdoğan gefunden haben: Es | |
ist der Hass auf syrische Geflüchtete! Der Aussage „Die Syrer sollen nach | |
Hause geschickt werden“ stimmen 83,2% aller AKP-Wähler*innen zu, 92,8% | |
aller CHP-Wähler*innen, 88% aller MHP-Wähler*innen und 75% aller | |
HDP-Wähler*innen. | |
In den ersten Jahren des Krieges, als die Syrer*innen begannen, ihr Land zu | |
verlassen, hatte die AKP-Regierung die Grenzen geöffnet und verkündet, man | |
wolle die „muslimischen Brüder“ mit offenen Armen empfangen. Anscheinend | |
hat der Status des Bruders eine recht kurze Halbwertzeit. Im Gespräch mit | |
taz.gazete mahnen Prof. Pınar Semerci ve Dr. Emre Erdoğan, es sei | |
angesichts der tiefgehenden Polarisierung von lebenswichtiger Bedeutung, | |
dass jetzt alle auf die Bremse drücken. | |
Dabei haben die beiden Autofahrer auf der engen Straße in Ankara doch | |
durchaus auf die Bremse gedrückt, um keinen Schaden zu nehmen. Aber danach | |
haben beide die Möglichkeit verworfen, einen Schritt zurückzusetzen, um | |
nicht „als der Dümmere dazustehen“. Natürlich kann es in einer | |
Gesellschaft, die Unterschiede nicht mehr ertragen kann, einen | |
Auffahrunfall verhindern, wenn alle auf die Bremse drücken. Aber voran | |
kommt man damit nicht. | |
Ob wohl in der türkischen Gesellschaft, ähnlich wie neulich auf der engen | |
Ankaraner Straße, eine starke soziale oder politische Akteurin auftreten | |
wird, die eine gewaltvolle Auseinandersetzung verhindern kann, indem sie | |
allen deutlich macht, dass man nicht nur auf die Bremse treten, sondern | |
auch bereit sein muss, einen Schritt zurück zu machen? | |
Die Machthabenden scheinen ihren eigenen Anhänger*innen zu sagen: „Schnallt | |
euch gut an und macht euch bereit für eine Karambolage!“ Die demokratische | |
Opposition verharrt unterdessen in einer Abwartehaltung. Dabei weiß | |
niemand, ob aus einem Hausflur die Frau heraustreten wird, die einen | |
gewaltsamen Konflikt zu verhindern weiß. | |
Die Ergebnisse der Studie können [1][hier] abgerufen werden. | |
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny | |
26 Feb 2018 | |
## LINKS | |
[1] https://goc.bilgi.edu.tr/en/ | |
## AUTOREN | |
İrfan Aktan | |
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