# taz.de -- Die große Big-Data-Sinfonie | |
> Abenteuerspielplatz Theater:Mit seiner neuen Inszenierung „Staat 1–4“ | |
> gelingt dem Kollektiv Rimini Protokoll zum Thema Überwachung eine neue | |
> Form der Partizipation | |
Bild: Rimini Protokoll: „Staat 1–4, Träumende Kollektive, tastende Schafe�… | |
Von Julika Bickel | |
Streng geheime Mission im Museum: Getarnt als gewöhnliche Besucherin bewegt | |
man sich inkognito zwischen der Büste der Nofretete und anderen | |
altägyptischen Kulturschätzen, während man den Geschichten von | |
Geheimdienstmitarbeitern und Whistleblowern über Kopfhörer lauscht und | |
versucht, sich selbst als Geheimagentin zu beweisen. Eine Führung auf einer | |
Großbaustelle: Man trifft InvestorInnen in einem Baucontainer, ein | |
rumänischer Bauarbeiter berichtet von Schwarzarbeit und der ehemalige | |
BER-Entrauchungsplaner Alfredo di Mauro erklärt, die Politik sei an allem | |
schuld. Eine Reise in die Zukunft: Im Jahr 2048 präsentiert die künstliche | |
Intelligenz IRIS den Menschen ein Modell einer digitalen Regierung und | |
lässt sie über sämtliche Fragen via Smartphone abstimmen. | |
## Komplexe Netzwerke | |
Das sind die Szenarien der ersten drei Inszenierungen des Vierteilers | |
„Staat 1–4“ von Rimini Protokoll, die derzeit im Neuen Museum und im Haus | |
der Kulturen der Welt (HKW) aufgeführt werden. Staat 4, „Weltzustand | |
Davos“, läuft ab Donnerstag. Die partizipativen Inszenierungen fühlen sich | |
an wie Abenteuer und das macht wirklich großen Spaß. Man begibt sich mitten | |
hinein in diese undurchsichtigen, komplexen Netzwerke und Kräfte, die sich | |
der staatlichen Kontrolle entziehen. Durch die Globalisierung und die | |
Digitalisierung haben sich Bereiche wie das Netz von Nachrichtendiensten, | |
Lobbyismus und Big Data aufgetan, die ausschließlich ihren eigenen Regeln | |
folgen. Der Nationalstaat mit seiner Gewaltenteilung hat längst nicht mehr | |
den Einfluss, den er bis 1989 hatte. Die vier Theaterproduktionen bilden | |
eine Bestandsaufnahme der Gegenwart: Wie ernst steht es eigentlich um den | |
Zustand der Demokratie? | |
Jede Produktion hat passend zum Themenkomplex ihre je eigene Form gefunden. | |
„Top Secret International“ (Staat 1) stellt einen Algorithmus in Form eines | |
Audioguides dar: Eine weibliche und einen männliche Stimme führen durch die | |
Ausstellungsräume, geben Anweisungen – gehe dorthin, suche dir eine | |
Skulptur zum Betrachten, setze dich hierhin, gehe langsam und unauffällig | |
weiter, du bist bereits verdächtig lange im selben Raum – und stellt einen | |
immer wieder vor Entscheidungen: Würdest du unter Umständen lügen, wenn | |
dich jemand darum bittet? Würdest du zur Not Gewalt anwenden, um andere | |
Menschen zu retten? Würdest du eine verdächtig erscheinende Mail deines | |
Partners lesen? | |
Man fühlt sich wie in einem Spionage-Thriller. Jede Person geht ihren | |
individuellen Weg durchs Museum, abhängig davon, ob sie die Fragen mit Ja | |
oder Nein beantwortet. Heimlich fotografiert man andere Menschen und steckt | |
einem anderen Agenten einen Zettel zu. Das System weiß stets, wo man sich | |
befindet. Dazwischen hört man unzählige O-Töne, zum Beispiel von Gerhard | |
Schindler, dem ehemaligen BND-Präsidenten, der sagt, dass schmutzige | |
Geschäfte zu betreiben Alltag für Nachrichtendienste sei. Spione müssen | |
lügen, betrügen und mit den Gefühlen anderer spielen. Ein aktiver | |
Geheimpolizist aus Griechenland, er will anonym bleiben, erzählt, wie er | |
monatelang eine Person beschattet, aber trotzdem nicht den Zweck seiner | |
Überwachung erfährt. | |
## Experten des Alltags | |
Das Regiekollektiv Rimini Protokoll, bestehend aus Helgard Haug, Daniel | |
Wetzel und Stefan Kaegi, macht anhand von konkreten Orten, Szenarien und | |
sogenannten Experten des Alltags große Zusammenhänge erlebbar. Mit viel | |
Aufwand haben sie damit komplexe Systeme geschaffen, wodurch die | |
Inszenierungen im doppelten Sinne großartig sind. Für „Gesellschaftsmodell | |
Großbaustelle“ (Staat 2) hat Rimini Protokoll im HKW eine ganze Halle in | |
eine Großbaustelle mit Kran, Sandberg, Gerüst und einer Aussichtsplattform | |
verwandelt. Acht Besuchergruppen zu jeweils 30 Personen werden gleichzeitig | |
koordiniert und zeitlich aufeinander abgestimmt an verschiedenen Stationen | |
über die Baustelle geführt. Beeindruckend und oftmals auch witzig ist, wie | |
sich alle parallelen Abläufe aufeinander beziehen und ineinander verweben. | |
## Die WanderarbeiterInnen | |
Die Besuchergruppe, die gerade als WanderarbeiterInnen aufsteht, sich | |
streckt und zur Arbeit marschiert, symbolisiert zum Beispiel für eine | |
andere Besuchergruppe die Stadt Singapur, die bankrott war und sich dann zu | |
einer der reichsten Städte der Welt entwickelte. Alles funktioniert nach | |
einer Choreografie, alles beeinflusst und wirkt auf andere Prozesse und das | |
Ganze wird zu einem Wimmelbild. Wer ist verantwortlich? Die Schuld tragen | |
immer die anderen und die Welt ist korrupt, so der Konsens. Aber es gibt | |
auch viele Momente der Hoffnung. Ein Professor für Stadtentwicklung | |
präsentiert ein überzeugendes Konzept für postfossiles Bauen und ein | |
Ameisenforscher rät zur Geduld, denn die Menschen hätten erst wenige | |
tausend Jahre an Bau-Erfahrung. | |
Zwei Moderatoren in Athen spielen in Staat 3, „Träumende Kollektive und | |
tastende Schafe“, ein Zukunftsszenario mit dem Publikum durch: Die | |
Vorstellung einer Intelligenz, die nicht nach eigenen Interessen handelt, | |
weder in Skandale noch in Abhängigkeiten verstrickt ist und somit Probleme | |
gerecht und fair lösen kann, ist verlockend. Künstliche Intelligenz spricht | |
mit einer Siri-ähnlichen Kinderstimme aus dem Off und stellt eine Frage | |
nach der anderen. Doch die meisten Zuschauenden, so zeigt es die | |
Abstimmung, die an die Wand projiziert wird, bleiben skeptisch. | |
Eine Zuschauerin, die als Ms Average ermittelt wird, also die Person, deren | |
Antworten am meisten im Durchschnitt lagen, beschwört: „Das kann nicht | |
sein.“ Weitere Pannen und Systemfehler machen misstrauisch. In welchen | |
Bereichen sind wir bereit, unsere Selbstbestimmung abzugeben oder haben es | |
schon längst getan? Verhalten sich Menschen tatsächlich autonom oder doch | |
eher wie Schwärme und Herden? Wie viel geben wir von uns preis? Diejenige | |
Farbe, die jeweils auf dem eigenen Smartphone erscheint, verraten den | |
Umstehenden, welche Antwort man geklickt hat. Jede der vier | |
Antwortmöglichkeiten erzeugt einen anderen Ton, zusammengefügt ergibt das | |
am Ende eine Sinfonie der Entscheidungen. | |
Weitere Aufführungstermine: | |
„Staat 1“: Audioguide im Neuen Museum, jeweils Do. bis So., noch bis zum | |
25. März; „Staat 3“: Aufführungen im HKW jeweils vom 8. bis zum 11. März; | |
„Staat 4“: Aufführungen im HKW jeweils vom 8. bis zum 11. März | |
5 Mar 2018 | |
## AUTOREN | |
Julika Bickel | |
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