# taz.de -- Geschichte verläuft halt nicht linear | |
> Fröhlicher Referenzknast: die Punkband Pisse bei ihrem Konzert in Berlin | |
Von Frederic Jage-Bowler | |
Mit Ausnahme ihrer Musik ist über die Band Pisse herzlich wenig bekannt. | |
Dass sie 2012 in Hoyerswerda gegründet wurde und seitdem mit einer Handvoll | |
Veröffentlichungen auch außerhalb von Punk-Zirkeln für Furore gesorgt | |
haben, das hat sich weit herumgesprochen. Dass ihre Texte nicht nur lustig | |
sind und ihr Sound derzeit ihresgleichen sucht, hierzulande, auch das ist | |
bekannt. Dass ihr Konzert im Berliner SO36 am Sonntagabend seit Wochen | |
ausverkauft war, geschenkt. | |
Der Weg dorthin führt vorbei an einer Galerie, in der eine | |
Comic-Ausstellung namens „Kacke“ läuft. Einige der dort rauchend Lungernden | |
wird man später noch beim Pogo beobachten können. Vorm Club stehend trifft | |
man auf weitere KonzertgängerInnen, die, mit Iro, zerrissener Strumpfhose | |
und Nasenringen ausgestattet, aussehen, als könnten sie die Oranienstraße | |
wieder zu der Punkmeile machen, die sie einmal war. Zumindest für eine | |
Nacht. | |
Den Abend eröffnen mit Universum und FICKR zwei Kapellen, die man getrost | |
als Vorband-Material bezeichnen kann. Im besten Sinne scheinen sie dem | |
Publikum mit einer wilden Mischung aus Heavy Metal und Fun-Punk sichtlich | |
Freude zu bereiten. Dann endlich, und völlig ungeniert: Pisse. Zwei ihrer | |
Bandmitglieder sehen aus wie Brüder, die beiden anderen, wie man sich | |
Leipziger vorstellt: dünne Beinchen, Sportklamotten, Plastikbrillen. Was | |
noch? Pisse benutzen ein leibhaftiges Schlagzeug. Das ist immer noch die | |
Regel, obwohl die meisten Punk-Drummer auch mit zwei Trommeln bestens | |
auszukommen scheinen. | |
Zwei Anhaltspunkte, die dem widersprüchlichen Geist der Band Pisse näher | |
kommen, lassen sich finden. Erstens: Auf einem Verstärker ist ein Wimpel | |
der kurdischen Volksverteidigungseinheiten drapiert. Aha! Nationale | |
Symbolik im Kontext des Antinationalen. Muss man erst mal draufkommen. | |
Zweitens: Sie benutzen das altertümliche Instrument Theremin, aus dem sie | |
geschickt Melodien und Klangeffekte entlocken, zu dem die Fans wie wild | |
durch die Gegend springen. | |
Pisses erste schnelle, auf Blastbeats fußende Nummer endet mit gebrüllten | |
Zeilen: „Du bist perfekt / Das Arschloch das sich selber leckt / Das | |
Gewissen das sich für sich schämt / Die Kamera die sich selber filmt“. Es | |
folgt eine gute Stunde wunderbar rhythmischen Krachs und eine Zugabe, die | |
auf die ersten rassistischen Schandtaten nach der Wende in Hoyerswerda und | |
Lichtenhagen mit einem: „Scheiß DDR / Scheiß BRD“ und schließlich einem | |
„Scheiß Berlin“ antwortet. Das ist cleverer, als es zunächst klingt. Pisse | |
sind Profis der angewandten Dialektik. In ihrem Stück „Alt sein“ rufen sie | |
dazu auf, Enten mit K.-o.-Tropfen zu füttern, einer gefürchteten | |
Betäubungsdroge. Dass ebendiese Tropfen in Technoclubs gleichzeitig ein | |
gern gesehenes Aufputschmittel sind, das scheinen Pisse ganz genau zu | |
wissen. | |
Ein weiteres Indiz für Pisses Widersprüchlichkeit ist die Tatsache, dass | |
die Band überhaupt das Theremin einsetzt. Künstler von Captain Beefheart | |
bis Portishead haben ihrem Sound damit etwas Geisterhaftes verliehen. Im | |
Punk wurde der Ur-Synthesizer bisher ignoriert. Auch dem Erfinder des | |
Theremins könnte man eine dialektische Laufbahn attestieren. So kam der von | |
Lenin gelobte Tüftler Leon Theremin unter Stalin in den Gulag. Aus dem | |
Gefängnis heraus entwickelte er schließlich Wanzen, die der KGB dazu | |
nutzte, um die Erzfeinde in den USA abzuhören. Erst 1990 trat Theremin in | |
die KPdSU ein, ein Jahr vor deren Auflösung. Geschichte verläuft halt nicht | |
linear. Ob Pisse das wissen? | |
14 Feb 2018 | |
## AUTOREN | |
Frederic Jage-Bowler | |
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