# taz.de -- Die Einsamkeit in den Filterblasen | |
> Am Deutschen Theater bringt Kristo Šagor John von Düffels Roman | |
> „Klassenbuch“ auf die Bühne. Es entsteht ein radikales und düsteres St�… | |
> über Selbstfindung und Erwachsenwerden | |
Von Julika Bickel | |
Erik fragt sich, ob er wirklich ein Junge sei, und beschließt, er sei ein | |
Elf. Annika sammelt mit ihrem kleinen Bruder tote Tiere von der Straße ein | |
und gibt ihnen Namen, bevor sie die Hasen, Igel und Mäuse bestattet. Nina | |
führt ein digitales Tagebuch, ihre kleine Drohne schwirrt neben ihr her und | |
filmt sie den ganzen Tag, wobei Nacktbilder und Toilettengänge automatisch | |
herausgeschnitten werden. Insgesamt sind es dreizehn Jugendliche, sie gehen | |
gemeinsam in eine Klasse, und doch ist jede*r von ihnen allein. | |
Der Autor John von Düffel zeigt die jungen Charaktere jeweils in ihrer | |
eigenen Realität und erzählt seinen Roman „Klassenbuch“ daher aus vielen | |
verschiedenen Perspektiven. Die Jugendlichen leben für sich, parallel und | |
um sich selbst kreisend in isolierten Kosmen. An den Kammerspielen im | |
Deutschen Theater wurde am Montag eine Adaption des Romans uraufgeführt. | |
Von Düffel arbeitet zwar als Dramaturg am DT, hat sich aber nach eigenen | |
Angaben bei der Theaterfassung von Kristo Šagor komplett herausgehalten. | |
Am Anfang braucht die Geschichte ein wenig, um in Gang zu kommen. Die | |
jungen Schauspieler*innen steigen von hinten aus einem Graben über eine | |
Treppe auf die leicht nach vorn geneigte, weiße leere Bühne. Doch je mehr | |
die Figuren erzählen, desto tiefer dringt man in die Psyche der jungen | |
Erwachsenen ein, in ihren Schmerz, ihre Zweifel und ihre Angst, sich selbst | |
nicht finden zu können. Šagor lässt vereinzelt Dialoge entstehen und gibt | |
den Jugendlichen durch Sprechchor-Sequenzen eine gemeinsame Stimme. So | |
unterschiedlich sie sind, vereint sie doch ihre Suche nach ihrer Identität | |
und die Einsamkeit, die sie dabei verspüren. Sie sprechen metaphorisch, in | |
Bildern, erzählen von der Grille, die singen muss, und der Ameise, die | |
arbeiten muss. Erik sagt: „Ich bin auf die Grille getreten. Ich habe den | |
Sommer getötet.“ Stanko erzählt, er habe seine Familie getötet. | |
Es sind düstere und radikale Welten, in denen sich die Jugendlichen | |
bewegen. Sie sind gezeichnet von Gewalt: psychischer und körperlicher | |
Machtmissbrauch innerhalb der Familie, Mobbing in der Klasse und der Drang, | |
sich selbst zu zerstören. Die Klassengemeinschaft gibt den Jugendlichen | |
dennoch Halt. Als ihre Lehrerin plötzlich nicht mehr in der Schule | |
erscheint, bricht alles auseinander. | |
Bea hat schon mehrmals versucht, sich selbst zu töten, schwänzt den | |
Unterricht und provoziert ihre Eltern damit, dass sie mit zwei Jungs | |
gleichzeitig Sex hat. Durch die Digitalisierung fühlen sich die Charaktere | |
noch mehr unter Druck gesetzt, perfekt zu sein. Alle leben in ihrer eigenen | |
Filterblase. Die virtuelle Welt – in der Inszenierung wird sie durch | |
Live-Kamera und Bilderrahmen dargestellt – bildet eine eigene Wirklichkeit. | |
Sie ermöglicht, ein optimiertes Bild zu präsentieren, ein virtuelles Ich zu | |
erschaffen, andere zu manipulieren und zu kontrollieren. | |
Lenny, der von allen als Idiot bezeichnet wird, hackt schließlich seine | |
Mitschüler*innen. Emily ist Netzaktivistin, sie kämpft für besseres | |
Kantinenessen, sie ist selbstbewusst, klug und schlank, viele beneiden sie. | |
Wegen ihrer Magersucht wird sie schließlich künstlich ernährt, sie geht in | |
eine Abtreibungsklinik – „Ich habe gevögelt, weil ich Hunger hatte“ – … | |
landet am Ende in der Psychiatrie. | |
Wieder an den DT-Kammerspielen am 19. 2. 19.30 Uhr, 27. 2., 16. 3. und 19. | |
3., jeweils 19 Uhr | |
14 Feb 2018 | |
## AUTOREN | |
Julika Bickel | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |