# taz.de -- Geheimnisvoller Heimweg | |
> Ein Stipendium führt die Autorin nach Berlin. Von Berlin geht sie zurück | |
> nach New York. Von New York wieder nach Berlin. In knappen, kunstvollen | |
> Szenen beschwört Andrea Scrima autobiografische Details als Momente eines | |
> Romans und fasst Schmerz, Glück, Farben in erzählerische Bilder. „Wie | |
> viele Tage“ heißt dieses so rätselhafte wie schwebende Erinnerungsbuch | |
Bild: Die Gegenstände werden das Ich überdauern. Berlin, Fidicinstraße | |
Von Elisabeth Wagner | |
Eisenbahnstraße, und der Moment, als ich zum ersten Mal wieder das Atelier | |
betrat, zurückgekehrt nach zwei Wochen Abwesenheit.“ So beginnt der 2010 | |
publizierte und nun endlich in deutscher Übersetzung erschienene Roman der | |
US-amerikanischen Künstlerin und Schriftstellerin Andrea Scrima. Mit dem | |
Wiedereintritt in eine Atmosphäre. „Wie seltsam der Raum aussah“, bemerkt | |
die Erzählerin. Der Leser, angelockt durch ihren selbstvergessenen Ton, | |
geht ihr nach, leise und wie um sie nicht zu stören. Er folgt ihr ungesehen | |
in die Eisenbahnstraße und die Fidicinstraße in Berlin, in eine noch leere | |
Fabriketage in Williamsburg, Brooklyn, in die Ninth Street, die Bedford | |
Avenue in New York, an Orte ihres Lebens. | |
Als eine „Meditation“ hat man Andrea Scrimas Debütroman beschrieben, als | |
eine Lebensgeschichte, aus kleinen poetischen Wundern gewebt. Vielleicht | |
könnte man dieses Buch, das den doppeldeutigen Titel „Wie viele Tage“ | |
trägt, genauso gut einen geheimnisvollen Heimweg nennen, vorausgesetzt, man | |
erwartet nicht, dass die Spur in wohlige Wärme führt, in falsche | |
Sicherheit. | |
Die Versprechungen der Identität berühren, interessieren diesen Roman | |
nicht; ohnehin wären sie viel zu grob und unpräzise, um nur eine Sekunde, | |
die man in einer bestimmten Wohnung gelebt oder am Rande einer Tanzfläche | |
gestanden oder in der man süchtig wurde nach dem Lächeln eines Unbekannten, | |
zurückzuholen. | |
Zur Jahrtausendwende, in New York. Die Erzählerin erinnert sich, wie sie | |
nach einer Party „ohne Hoffnung auf Schlaf in der Dunkelheit lag und in den | |
undurchdringlichen Nebel hinausblickte, in dem sich leuchtende Sphären um | |
die Straßenlaternen scharten wie böse Gerüchte um die Ahnungslosen“. | |
So knapp sie sind, niemals sind die Szenen skizzenhaft, sondern immer | |
erzählerisch und oft betörend schön, und auch das ist ein Rätsel dieses | |
Textes. Wie er das autobiografische Detail als Augenblick eines Romans | |
beschwört, wie er die Orte, die Erinnerungen, die mit ihnen untrennbar | |
verbunden sind, ineinander übergehen lässt und dabei den Schmerz, das | |
Glück, die Farbe eines Moments in Bilder fasst. | |
Sie kommt vom Bild. Von der Kunst. Andrea Scrima, 1960 in New York geboren, | |
unterhält zum Visuellen, wenn man von ihrer Beziehung zur Mathematik | |
absieht, ihre älteste kreative Beziehung. Die National Science Foundation | |
schickte die 16-Jährige ans Bard College, wo sie in einem Förderprogramm an | |
klassischen mathematischen Problemen arbeitete. Sie habe sehr lange nicht | |
mehr daran gedacht, aber auch dort, so Scrima, habe das Sehen, habe die | |
Intuition für sie eine besondere Rolle gespielt. | |
Ein Stipendium führte sie nach Berlin. Von Berlin ist sie zurück nach New | |
York gegangen, von New York wieder nach Berlin. An die Chronologie aber | |
hält sich die Erinnerung naturgemäß nicht. „Bedford Avenue: der Abdruck, | |
den dein Schweiß im Firnis der Klavierstuhls hinterließ; die Sammlung von | |
an die Wand gehefteten Zeitungsfotos …, ich weiß es nicht mehr, aber wir | |
lebten von sechs Dollar am Tag, drei davon habe ich jedes Mal, wenn ich in | |
den Norden von Manhattan fuhr, für U-Bahn-Jetons verbraucht. Wie wir unsere | |
Reiseschecks in Alufolie gewickelt im Gefrierfach versteckten.“ | |
Jemand ist mit im Raum, eine Präsenz, ein Du, das so wandelbar ist wie das | |
Ich. Es kann ein Geliebter sein, oder der Bruder, der Vater; niemals ist es | |
die Mutter; manchmal meint man, eine Freundin sei gemeint, eine Schwester, | |
die im Keller des Elternhauses auf Staten Island zwischen Umzugskisten | |
steht und die Erzählerin über Telefon fragt, ob sie eine kleine | |
Bronzefigur, diesen oder jenen Pinsel oder das Schachspiel haben möchte. | |
Die Gegenstände werden das Ich überdauern, „nichts ist so ephemer wie ich | |
selbst“, weiß die Erzählerin, die ihre Ambivalenzen, ihre „Schwierigkeit | |
mit dem Präsens“ zum Ausgangspunkt ihrer Suche macht und sich im Schreiben | |
mit ihrem Leben verbündet. Sie muss in Gedanken nur eine Schublade des | |
alten Küchenschranks auf Staten Island öffnen oder die italienischen | |
Lesefibeln vor sich sehen, oder sich daran erinnern, wie sie „in diesem | |
riesigen Königreich unserer Kindheit“ für den Bruder „wissenschaftliche | |
Tatsachen“ über das Universum erfand, und es ist, als würden die Figuren | |
sich in Bewegung setzen, als könnten sie der Erzählerin sogar ins Wort | |
fallen, so lebendig werden sie im Bild dieser Sprache. | |
Das ist hohe Kunst und beweist den Reichtum dieses Buchs, dem es gelingt, | |
sich von allen Belangen der Selbstbehauptung zu lösen und einen Raum zu | |
schaffen, in dem man als Leser tatsächlich den Eindruck hat, genauer | |
denken, deutlicher sehen zu können. Empfindsamer zu sein. | |
10 Feb 2018 | |
## AUTOREN | |
Elisabeth Wagner | |
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