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# taz.de -- Hört, man schießt
> Im Haus der Wannsee-Konferenz, wo vor 76 Jahren der Holocaust organisiert
> wurde, wird „Der Tisch“ von Ida Fink aufgeführt – ein Theaterstück aus
> der Sicht der Überlebenden
Bild: „Nach links“ bedeutete Tod. Charles Toulouse, Tim Mackenbrock, Laura …
Von Julika Bickel
Der Schnee war rot. 400 jüdische Menschen erschoss die Gestapo auf dem
Marktplatz, 800 weitere auf dem Friedhof. Vier Überlebende berichten von
der Aktion. Wer geschossen hat, wie oft und was für ein Tisch da stand,
daran können sich die Zeuginnen und Zeugen nicht mehr genau erinnern. Sie
hatten Angst, sahen weg, waren weit entfernt, versteckten sich. Wer dachte
damals schon an einen Tisch? Das Blut auf den Straßen blieb ihnen allen im
Gedächtnis.
Die Geschichte des Theaterstücks „Der Tisch“ ist fiktiv, und doch ist sie
wahr. Die Namen, der Schauplatz, die Protokolle sind erfunden, doch die
Selektionen und Massenerschießungen, wie die Autorin Ida Fink sie in ihrem
Stück schildert, haben so oder so ähnlich in vielen Städten Anfang der 40er
Jahre stattgefunden. Am vergangenen Samstag führte das Vajswerk
Recherchetheater Berlin die deutschsprachige Erstaufführung im Haus der
Wannsee-Konferenz auf. Auf den Tag genau vor 76 Jahren, am 20. Januar 1942,
trafen sich in der Villa hochrangige Vertreter der SS, der NSDAP und
verschiedener Reichsministerien, um über organisatorische Fragen der
geplanten Deportation und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden zu
beraten.
An einem Ort der Täter also fand nun ein Theaterstück statt, das die
Überlebenden des Holocaust ins Zentrum stellt. Das Gäste- und Tagungshaus
der SS ist heute eine Gedenkstätte. An den Wänden hängen Informationstafeln
mit Fotos von Vernichtungslagern und Dokumenten der Wannseekonferenz. In
der Inszenierung von Christian Tietz wandert das Publikum von Raum zu Raum
durch die Ausstellung. In jedem der vier Räume tritt ein Darsteller als
Zeuge in dem Prozess gegen die Täter an. Dasselbe Ereignis erscheint aus
vier ganz verschiedenen Blickwinkeln. Wie ein Puzzle fügen sich die
eindrücklichen Erzählungen zu einem Ganzen zusammen und lassen eine ganze
Dorfgemeinschaft lebendig werden.
Die Menschen mussten sich auf dem Marktplatz versammeln und wurden von der
Gestapo einzeln aufgerufen. Wurde ihre Arbeitskarte für in Ordnung
befunden, durften sie nach rechts gehen. „Nach links bedeutete den Tod“,
erklärt eine Zeugin. Mehrmals wird erzählt, wie eine Mutter nach rechts
geschickt wurde, während ihre zehnjährige Tochter nach links gehen sollte.
Die Mutter weigerte sich, sich von ihrer Tochter zu trennen. Daraufhin
wurden beide auf der Stelle erschossen. Ein Mann erzählt, wie sich seine
Frau in böser Vorahnung an ihn klammerte. Sie arbeitete im Sägewerk, ein
guter Job, glaubte er. „Ich habe sie nie wieder gesehen“, sagt er. Wer
nicht auf dem Marktplatz erschien, wurde aus dem Haus gezerrt und mit dem
Gesicht zur Wand sofort erschossen.
Die fiktiven Zeugenaussagen sind so reichhaltig, so authentisch, weil die
Autorin des Stücks selbst Zeugin von Gestapo-Aktionen wurde und für die
Gedenkstätte Jad Vaschem Interviews mit anderen Überlebenden führte. Ida
Fink wurde 1921 in Sbarasch geboren, einer kleinen Stadt, die damals zu
Polen gehörte und heute in der westlichen Ukraine liegt. 1941 und 1942
fanden die ersten Selektionen und Massenerschießungen in ihrer Heimatstadt
statt. Unter falscher Identität überlebte sie als polnische
Zwangsarbeiterin und wanderte 1957 nach Israel aus. Für ihr
schriftstellerisches Werk erhielt sie unter anderem den
Anne-Frank-Literaturpreis und den Israel-Preis für Literatur. Sie starb
2011 im Alter von 89 Jahren.
Die von Fink angelegten Dialoge werden in der Inszenierung von Christian
Tietz zu Monologen, wodurch die Zeugenaussagen noch stärker im Fokus
stehen. Nur an Stellen, an denen die Antworten sonst unverständlich wären,
sind die Fragen der Staatsanwaltschaft in der Inszenierung beibehalten
worden. „Wer hat geschossen?“, fragt ein Darsteller, der sich unter das
Publikum gemischt hat. Die Zeugin weiß es nicht.
Fink lässt in ihrem Stück viele Lücken und Widersprüche zu. Die
Zeugenaussagen unterscheiden sich teilweise stark. Die Befragung der
Staatsanwaltschaft, die nach Einzelheiten eines Ereignisses sucht, das zu
diesem Zeitpunkt 25 Jahre zurückliegt, wirkt immer absurder. Ist es
wichtig, wie groß der Tisch auf dem Marktplatz war, ob er überhaupt da war,
ob die Gestapo-Männer daran saßen oder standen, wer von ihnen geschossen
hat und wie oft?
Ein Genozid fand statt. Eine Zeugin, die sich während der Aktion auf dem
Dachboden versteckt hielt, bringt es auf den Punkt. „Alle haben die
Aktionen durchgeführt“, sagt sie. Letztlich spiele es keine Rolle, wer an
diesem Tag geschossen habe. Sie alle seien schuldig, erklärt sie. Die
letzte Zeugin war damals erst 13 Jahre alt. Wie solle sie wissen, wie oft
geschossen wurde, erwidert sie dem Staatsanwalt. „Hört, man schießt“, sag…
sie immer wieder zu ihren Eltern, als die Aktion bereits vorbei war. Erst
eine Woche später habe sie aufgehört, Schüsse zu hören.
Vorerst letzte Aufführung heute, 22. Januar, 16 Uhr im Haus der
Wannsee-Konferenz
22 Jan 2018
## AUTOREN
Julika Bickel
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