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# taz.de -- „Das Hirn ist mit 18 noch nicht so weit“
> Eigentlich müsste man die Grenze zur Volljährigkeit um drei bis vier
> Jahre nach hinten verschieben, sagt die Neuropsychologin Kerstin Konrad.
> Der Körper ist dem Kopf voraus
Bild: Der Mandelkern ist reif, das Großhirn noch nicht. Das macht es so spanne…
Interview David Gutensohn
taz am wochenende: Frau Konrad, was sagt die Wissenschaft zu der Frage,
wann ein Mensch erwachsen ist?
Kerstin Konrad: Was wir in den letzten Jahren im Bereich der Hirnforschung
gelernt haben, hat eins deutlich gemacht: Im Alter von 18 Jahren ist das
Gehirn nicht erwachsen. Es sieht noch nicht so aus wie bei einem älteren
Erwachsenen. Und es gibt eine Reihe von Entwicklungsprozessen, die erst
nach dem 18. Lebensjahr geschehen und ganz entscheidend für psychologische
Reife sind.
Was sind das für Prozesse?
Zum einen sind bestimmte Hirnregionen, wie etwa der Stirnlappen, nicht
komplett ausgereift. Auch die Vernetzung mit anderen Hirnregionen ist noch
nicht optimal. Beispielsweise reifen der Mandelkern und die
Belohnungsareale schon früher als die Großhirnareale, die diese
kontrollieren. So kommt es dazu, dass das Verhalten Jugendlicher stark
emotional und weniger kognitiv gesteuert ist.
Wie sind Sie zu diesen Erkenntnissen gekommen?
Unter anderem durch die Magnetresonanztomografie, mit der man die
Hirnstrukturen, Faserverbindungen und somit die Hirnentwicklung beobachten
kann. Idealerweise vergleicht man dabei einzelne Probanden über einen
längeren Zeitraum hinweg oder legt Probanden verschiedenen Alters in den
Scanner. Dabei lassen sich teilweise große Unterschiede zwischen den
verschiedenen Reifestadien der Hirnentwicklung aufzeigen.
Nun ist man rechtlich in Deutschland mit 18 Jahren volljährig. Ist das denn
überhaupt sinnvoll?
Die Forschungsergebnisse zeigen, dass man die Übergangsphase ins junge
Erwachsenenalter am besten noch mit zur Adoleszenz hinzurechnen sollte. In
der Konsequenz müsste die Volljährigkeit damit um mindestens drei bis vier
Jahre nach hinten versetzt werden.
Die Entwicklung ist aber gegenläufig: Die Bundesregierung hat 1974 das
Volljährigkeitsalter von 21 Jahren auf 18 abgesenkt (s. rechte Seite).
Aus biologischer Perspektive ist es in gewisser Hinsicht sinnvoll, dass man
das Alter damals herabgesetzt hat. Betrachtet man die Geschlechtsreife,
sieht man, dass diese seit Beginn des 20. Jahrhunderts kontinuierlich
früher eingetreten ist. Der Beginn der Pubertät und das Einsetzen der
ersten Periode bei Mädchen verschoben sich aufgrund von immer besser
gewordenen hygienischen, medizinischen und ernährungstechnischen
Bedingungen immer weiter nach vorn, von durchschnittlich 15 Jahren um 1900
auf 13,5 um 1950. Inzwischen liegt diese Grenze bei 12,8 Jahren. Seit
ungefähr 30 Jahren stagniert dieses Phänomen der sogenannten säkularen
Akzeleration allerdings in Mitteleuropa.
Der Kopf ist noch nicht so weit, der Körper aber schon. War es wirklich
sinnvoll, die gesellschaftliche Reife früher anzusiedeln?
Nach dem damaligen Stand der Forschung: Ja. Denn damals wusste man noch
nicht, dass die Hirnentwicklung nicht an diese biologischen Prozesse
gekoppelt ist. Das hat erst die neuere Forschung gezeigt. Die Tatsache,
dass die Hirnentwicklung so lange reift, ist auch etwas spezifisch
Menschliches. Bei allen Säugetieren ist die Hirnreife abgeschlossen, wenn
der Körper geschlechtsreif ist. Wir sollten das als große Chance sehen,
weil sich dadurch beim Menschen das Lernen und Erfahrungen noch viel länger
auf die Hirnentwicklung auswirken können.
Junge Menschen in Deutschland haben heute aber immer weniger Zeit. Sie
werden früher eingeschult, sollen das Abitur nach 12 Jahren machen, den
Führerschein mit 17 und infolge des Bologna-Prozesses auch die Universität
früher verlassen. Würden Sie Ihren Kindern zu einer Auszeit nach dem Abitur
raten?
Ja, auch wenn das biologisch nicht unbedingt notwendig ist. Wenn man es
sich leisten kann, ist das aber eine tolle Zeit, um Erfahrungen zu sammeln
und Reifeprozesse zu durchlaufen. Es gibt ohnehin gute Argumente dafür,
bestimmte Verantwortungen erst später wahrzunehmen. Beispielsweise sehen
wir in der Verkehrsstatistik, dass die jungen Fahrer besonders gefährdet
sind. Sie gehören zu einer Gruppe, um die man sich mehr kümmern muss.
An welche Bereiche denken Sie da noch?
Wir wissen auch, dass illegale Substanzen stärkere Auswirkungen auf das
Gehirn junger Menschen haben. Platt gesagt ist frühes Kiffen schädlicher
als spätes Kiffen. Auch im Strafrecht ist es sinnvoll, die spezielle
Situation von jungen Straftätern stärker zu berücksichtigen. Viele junge
Menschen sind noch nicht reif genug, um schwierige Entscheidungen zu
treffen, Pflichten zu erfüllen und eine solche Verantwortung zu tragen.
Ist das in anderen Ländern oder Weltregionen anders?
Dieser Aspekt ist aus neuropsychologischer Sicht noch relativ wenig
erforscht, aber sehr spannend. Wir wissen ja aus soziologischen Studien,
dass es große kulturelle Unterschiede im Heranwachsen gibt. Wann welche
Schritte des Erwachsenwerdens auftreten, ist total unterschiedlich.
Italienische Männer ziehen zum Beispiel vergleichsweise spät aus und wohnen
noch mit 30 bei Mama, während die finnischen Mädchen am frühesten von zu
Hause ausziehen. Diese kulturellen Unterschiede erzeugen sicherlich auch
unterschiedliche Hirnentwicklungen oder umgekehrt: Vielleicht sind die
kulturellen Unterschiede auch durch verschiedene Hirnentwicklungen bedingt.
Nicht nur kulturell, auch individuell sind die Anforderungen je nach
Biografie total verschieden. Wie wirkt sich beispielsweise das Erleben von
Schicksalsschlägen in der Kindheit auf das Erwachsenwerden aus?
Das hat einen Einfluss. Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass
Schicksalsschläge oder schwierige Umstände die biologische Reifung
beschleunigen, während sie für gut behütete Gruppen eher langsamer
verläuft. Es ist auch evolutionär sinnvoll, dass es da einen Zusammenhang
gibt.
Kann man diese Entwicklung wieder verlangsamen?
Dazu wissen wir bisher noch wenig. Bei Tierversuchen hat man festgestellt,
dass man in manchen Fällen nach der Pubertät diese frühen Narben wieder
heilen und eine Normalisierung der Entwicklung herstellen kann. Es wäre
toll, wenn die neurobiologische Forschung bald für Menschen konkrete
Bedingungen und Therapieformen identifizieren könnte, um bei abweichenden
Entwicklungen eine Aufwärtsspirale erzeugen zu können.
30 Dec 2017
## AUTOREN
David Gutensohn
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