| # taz.de -- Familie ist eine Baustelle | |
| > Die europäische Erstaufführung von Stephan Karams Familienstück „The | |
| > Humans“ im Schauspielhaus Bochum überzeugt mit messerscharfen Dialogen | |
| Bild: Sie alle tragen die eigene Last des Unglücks vor sich her | |
| Von Benjamin Trilling | |
| Als wollten sie mit dem Ritual alles Unglück vertreiben. Sie singen | |
| gemeinsam das alte schottische Lied „The Parting Glass“, wie sie es bei den | |
| Blakes traditionell tun, wenn die Familie zusammenkommt. Um Geld, | |
| Gesundheit und Leid geht es in diesem Song. Sorgen, die sie auch bei den | |
| Blakes haben und die sie schweigend mit sich tragen. Auch jetzt bei diesem | |
| Thanks-Giving, wo alle drei Generationen dieser Mittelschichtsfamilie | |
| zusammenkommen. Erst entstehen Gespräche. Irgendwann Konflikte. Und unter | |
| der Oberfläche tun sich schnell gesellschaftliche Abgründe auf. Ängste, Wut | |
| und Verzweiflung. In Frankreich ist es Yasmin Reza, die das meisterhaft in | |
| Szene setzt, im deutschsprachigen Raum Ayad Akhtar. | |
| In den USA hat Stephen Karam in diesem Genre einen Bühnen-Hit gelandet. | |
| „The Humans. Eine amerikanische Familie“ erhielt dort 2016 den Tony Award | |
| für das beste Stück. Karam, der zuvor in seinem Debüt „Speech & Debate“ | |
| drei sexuell traumatisierte Jugendliche porträtierte und in „Sons of | |
| Prophet“ die Erfahrungen einer libanesisch-amerikanischen Familie vor dem | |
| Hintergrund des 11. September schilderte, führte damit einen roten Faden | |
| fort: die Frage, wie sehr gesellschaftliche Krisen das familiäre Gefüge | |
| zerrütten. Im Schauspielhaus Bochum hat man sich die Rechte für die | |
| europäische Erstaufführung gesichert. Und auch die Bochumer Inszenierung, | |
| die Leonard Beck kurz vor der Premiere für Otto Kukla übernahm (wie das | |
| Schauspielhaus mitteilte, aus „persönlichen Gründen“) beginnt als | |
| klassisches Familientreffen. Dass es nur ein Faktor ist, der fehlen muss, | |
| damit eine Familie als unglückliche Gemeinschaft vor sich hin existiert, | |
| das ließ bekanntlich Leo Tolstoi Anna Karenina aussprechen. | |
| In „The Humans“ kommen gleich mehrere Faktoren zusammen: Geld- und | |
| Berufssorgen, Krankheiten und Ängste. Die gesellschaftlichen Auswirkungen | |
| von 9/11 und der Finanzkrise sind in den kleinen Geschichten spürbar. Bernd | |
| Rademachers Familienoberhaupt Erik Blake ätzt mit Seitenhieben, wenn er | |
| nicht dezent Bier in sich hineinkippt. Dass er seinen Job verloren hat, das | |
| verschweigt er bis zum Ende. Seine Frau Deirdre (Johanna Eiworth) quält | |
| sich mit einer Arthrose. Karoline Horster gibt ihre zweckoptimistische | |
| Tochter Brigid Blake, die von einer Karriere als Komponistin träumt, aber | |
| in einem Restaurant als Kellnerin schuftet. | |
| Ihre Schwester (Kristina Peters) leidet an einer chronischen Darmkrankheit, | |
| hat ihren Job deswegen verloren und muss sich operieren lassen. Die | |
| demenzkranke Oma „Momo“ (Nina Wurmann) sitzt im Rollstuhl und redet nur | |
| noch unverständliche Sachen. | |
| Sie alle tragen hier ihre eigene Last des Unglücks vor sich her. Dass aus | |
| diesem Anna-Karenina-Prinzip ein temporeicher Seelenthriller wird, als der | |
| sich diese Komödie entpuppt, hat in der Bochumer Inszenierung zwei Gründe: | |
| die messerscharfen Dialoge von Stephen Karam und das beeindruckene | |
| Bühnenbild (Ausführung: Sophie Charlotte Fetten). Das Apartment, in das | |
| Brigid die Verwandten einlädt, ist frisch bezogen: karge weiße Wände, | |
| Umzugskartons und rostige Klappstühle. Die Institution Familie ist hier | |
| eine triste Baustelle. | |
| Als die Bühne schließlich hochfährt, teilt sich das Interieur in Diele und | |
| Souterrain, Ober- und Unterfläche. Das garantiert ein temporeiches Spiel | |
| mit den Gleichzeitigkeiten, in denen sich die Unglücklichen ausweichen, | |
| sich in alberne Smalltalks flüchten, während gleichzeitig heimlich geweint | |
| wird. Den Rest besorgen an diesem Abend die subtilen Wortwechsel am | |
| Essenstisch, die wie eine Zündschnur all das Unglück freisprengen. Es lässt | |
| sich bis zum Ende nicht vertreiben. | |
| „The Humans. Eine amerikanische Familie“. Mittwoch, 20. Dezember, | |
| Schauspielhaus Bochum | |
| 12 Dec 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Benjamin Trilling | |
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