# taz.de -- Crossdressing-Musical „Kinky Boots“: Auf der roten Linie | |
> Das neue Hamburger Musical „Kinky Boots“ dreht sich um High-Heels und | |
> Drag-Queens. Explizit verhandelt wird das Thema Transsexualität aber | |
> nicht. | |
Bild: Und alle so: Yeah! | |
HAMBURG taz | Mann oder Frau? Man weiß es nicht. Wirklich nicht. Ist auch | |
egal, im Alltag der Großstadt soll halt jeder aussehen, wie er will. Aber | |
das hier ist kein Alltag, das ist die Bühne des Hamburger Operettenhauses | |
und die Tänzer auf der Bühne haben das „*“ im Wortsinn verdient: Sie sind | |
Tänzer*innen. Männer, deren Körper so sehr nach Frau aussehen, dass die | |
Geschlechtszugehörigkeit ernsthaft infrage gestellt ist. Männer mit den | |
Beinen von Frauen und den Bauchmuskeln von Männern. Beispielsweise. | |
Diese Tänzer*innen, sechs an der Zahl plus eine Anführer-Drag-Queen, sind | |
der Kern des neuen Stage-Entertainment-Musicals „Kinky Boots“. Sie sind der | |
Unique Selling Point, den jedes Musical braucht, um sich im hart | |
wirtschaftlich orientierten Musical-Markt profilieren zu können. Das | |
Besondere von „Kinky Boots“ besteht darin, diese Tänzer*innen gefunden und | |
zusammengeführt zu haben. Es sind hervorragende Tänzer*innen, die es | |
schaffen, im normalerweise irritationsfreien Musical-Raum Irritationen zu | |
schaffen. | |
Die Geschichte von „Kinky Boots“ dreht sich um eine Schuhfabrik im | |
englischen Northampton, es könnten die 70er-Jahre sein, jedenfalls ist das | |
Fabrikgebäude alt, heruntergekommen und düster. Länger schon laufen die | |
Geschäfte schlecht. Der alte Chef stirbt und sein Sohn Charlie kommt aus | |
London angereist, um die Firma abzuwickeln. Charlie will mit der Produktion | |
und dem Verkauf von Herren-Halbschuhen nichts zu tun haben. | |
Doch dann kommt alles anders: Charlie entdeckt seine soziale Ader, will die | |
Belegschaft nicht vor die Tür setzen und denkt über eine Neuausrichtung des | |
Geschäfts nach. Gleichzeitig lernt er die Drag-Queen Lola mit ihrer | |
Tanztruppe kennen. Lola klagt über die miese Qualität ihrer hochhackigen | |
roten Lederstiefel, die sie bei ihren Auftritten anzieht. Charlie zählt | |
eins und eins zusammen. Das neue Geschäftsmodell seiner Schuhfabrik heißt: | |
erotische Stiefel mit Lola als Chefdesigner*in. | |
## Vogueing und Glitzer | |
Zu diesem Zeitpunkt klatschen die Zuschauer im Operettentheater das erste | |
Mal mit, es ist eine Szene, in der Lola und ihre Truppe eine ihrer | |
erstklassigen Choreografien zum Besten geben. Das Orchester drückt | |
Disco-Beats in den Zuschauerraum und die sieben Tänzer*innen reizen aus, | |
was die homosexuelle Szene Harlems in den späten 70er-Jahren entwickelt hat | |
und später von Madonna bekannt gemacht wurde: Es geht um Voguing, also das | |
überspitze Imitieren der Posen von Mode-Models in hochdynamischen und oft | |
linearen Bewegungsmustern. Getanzt wird in aufwändigen Glitzerkostümen und | |
mit dickem Make-up. Das Musical: eine Travestieshow. | |
Als sich also Charlies neue Geschäftsidee und dessen brillant vorgeführte | |
Verwertbarkeit treffen, als die Zuschauer mitklatschen und aus der düsteren | |
Fabrik eine glitzernde Travestie-Bühne geworden ist, da denkt man: Okay, | |
Problem gelöst, Abend gelaufen. Allerdings sind zu diesem Zeitpunkt erst 50 | |
Minuten vergangen. | |
Deshalb müssen neue Probleme her, und die kommen von den männlichen | |
Fabrikarbeitern: Sie haben keine Lust auf die neue Produktionspalette. Sie | |
können nicht akzeptieren, dass der neue Chefdesigner in Frauenklamotten | |
rumläuft. Lola stellt die Kräfteverhältnisse in einem Boxkampf klar. Und | |
als diese Schlacht geschlagen ist, kommt das nächste Problem in Gestalt von | |
Charlies Ansprüchen: Nichts ist ihm gut genug und für schwule Männer wollte | |
er dann doch nicht produzieren – er dachte eher an erotische Frauen als | |
Kundschaft. | |
Musikalisch wird das alles gespiegelt in den Genres Rock (für die | |
Aufbruchstimmung), Disco (für die Tanzszenen) und Säusel-Pop (für die Liebe | |
und die Selbstzweifel). Zudem gibt es Tango und Soul – insgesamt ein | |
abwechslungsreiches Programm. Ein Hit zum Behalten ist nicht dabei, obwohl | |
Cyndi Lauper die Musik komponiert hat. Aber Energie und Groove stimmen. | |
Am Ende wird die Geschichte vom findigen Unternehmer natürlich auch noch | |
eine Geschichte von Toleranz, gesellschaftlicher Entwicklung und | |
Menschlichkeit. Der homophobe Vorarbeiter darf seinen Job behalten und sein | |
Gesicht wahren, muss aber im Gegenzug Akzeptanz lernen. Lola hilft Charlie | |
aus der Klemme. Charlie erkennt Lola und die Transen als echte Freunde an | |
und wird für diesen Lernprozess mit einer neuen Liebe (weiblich) belohnt. | |
Alle dürfen in dieser spätkapitalistischen Erfolgsgeschichte auf ihre | |
Façon glücklich werden. | |
Weil das aber nicht reicht, weil so ein Musical keine emotionale Schublade | |
ungezogen lassen will, gibt es darüber hinaus auch noch eine | |
Vater-Sohn-Beziehungsgeschichte. Charlie und Lola haben beide die | |
Erwartungen ihrer Väter enttäuscht und tragen schwer daran. Das Wissen um | |
das gemeinsame Problem schweißt sie zusammen. Charlie und Lola betreten als | |
Kinder die Bühne und tanzen sich am Ende frei. | |
Der Rührseligkeitsfaktor ist also hoch und die Geschichte von der | |
heldenhaft überwundenen Homophobie ist nicht mehr recht zeitgemäß. Trotzdem | |
hat „Kinky Boots“ mit dem Ensemble der Tänzer*innen einen Aspekt, der die | |
Sache interessant macht: Beteiligt sind hier auch Leute aus der | |
transsexuellen Szene und nicht nur Männer in Frauenklamotten. | |
Was diesen Unterschied ausmacht, haben die Filmemacher Rosa Baches und Dirk | |
Manthey in ihrem Dokumentarfilm „Der Schmuck der Straße“ erklärt. Der Film | |
berichtete 2010 von den Transsexuellen auf St. Pauli, von jungen Männern | |
aus Südamerika, für die Hamburg neben Barcelona und Mailand ein Anlaufpunkt | |
ist bei ihrer Migration ins für sie aufgeschlossenere Europa. | |
Die Hamburger Transsexuellen, die ein ganzes Haus in einer | |
Reeperbahn-Seitenstraße gemietet haben und sich von dort aus gegenseitig | |
helfen, wollen sich nicht nur schminken und anziehen wie Frauen, sie tun | |
auch viel dafür, ihre Körper anzupassen. | |
## Sichtbare Transsexuelle | |
Es handelt sich bei den Hamburger Transsexuellen um eine weitgehend | |
isolierte Community. Dieser Szene verhilft „Kinky Boots“ zu einer gewissen | |
Sichtbarkeit. Zwar wird das Thema Transsexualität nicht mit Tiefgang | |
behandelt, zwar bleibt „Kinky Boots“ stets auf der Ebenen von Männern, die | |
sich gern als Frauen verkleiden, aber man versteht durch die Auswahl der | |
Tänzer*innen, dass das Thema eine tiefgreifendere Dimension hat, nämlich | |
die der körperlichen Veränderung – die allerdings nicht zur Sprache, | |
sondern nur zur Anschauung kommt. Transsexualität explizit zu verhandeln, | |
daran traut sich „Kinky Boots“ dann doch nicht heran. | |
Wenn also Transvestiten eine gesellschaftliche Tabuzone in den 70ern | |
darstellten, so sind es heute offenbar die Transsexuellen, die sich hinter | |
einer roten Linie befinden. „Kinky Boots“ überschreitet die rote Linie | |
nicht, schreckt aber auch nicht davor zurück. Das kann hilfreich sein. Und | |
sei es nur dadurch, dass das Musical einer Handvoll Tänzer*innen für eine | |
Zeit lang zu guten Jobs verhilft. | |
10 Dec 2017 | |
## AUTOREN | |
Klaus Irler | |
## TAGS | |
Musical | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |