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# taz.de -- Stratege des Augenblicks
> Ohne Lenin keine Oktoberrevolution. Victor Sebestyen wirft in seiner
> leichtfüßigen Biografie einen neuen Blick auf den Menschen hinter dem
> Revolutionär
Bild: Konnte mit Frauen angeblich besser als mit Männern. Lenin mit Nadeschda …
Von Philipp Fritz
Es ist die Nacht des 24. Oktober 1917. Der Revolutionsführer ist nervös,
denn er ist abgeschnitten von seinen Leuten, geht in seinem Versteck auf
und ab. In Petrograd sieht er, mittlerweile 47 Jahre alt und nicht mehr bei
bester Gesundheit, seine letzte Möglichkeit für einen großen Coup. Eine
kleine Gruppe ihm ergebener Berufsrevoluzzer, die Bolschewiki, weilt jedoch
am anderen Ende der Stadt, im Smolny-Institut. Was also tun?
Der etwas untersetzte Mann mit der Halbglatze und den asiatischen
Gesichtszügen schnappt sich kurzerhand eine Perücke und einen Mantel und
läuft zusammen mit einem Mitstreiter los. Er mimt einen Betrunkenen und
entzieht sich so sogar einer Ausweiskontrolle. Mit Wladimir Uljanow,
genannt Lenin, an der Spitze kommt es zur Oktoberrevolution. Leo Trotzki,
Weggefährte und später Volkskommissar, sollte über die Begebenheiten jener
Nacht sagen, wäre Lenin aufgehalten worden, dann hätte alles ganz anders
ausgesehen.
Die Minuten und Stunden des Aufstands in Petrograd, damals noch im
russischen Zarenreich gelegen, in der Sowjetunion dann in Leningrad
umbenannt, heute St. Petersburg, beschreibt der Autor Victor Sebestyen
ausführlich im Prolog zu seiner Biografie „Lenin – Ein Leben“. Rechtzeit…
zum hundertjährigen Jubiläum der Oktoberrevolution erscheint das
monumentale Werk nun auf Deutsch.
Dem Briten Sebenstyen gelingt auf 700 Seiten ein Kunststück: Mit typisch
angelsächsischer Nonchalance zeichnet er spannend, manchmal nicht ohne Züge
von Slapstick ein Porträt Lenins. Ein Kunststück ist dies, weil der Autor
nicht dazu neigt, den ersten Regierungschef der Sowjetunion zu
glorifizieren oder zu dämonisieren, sondern ihn als Menschen aus Fleisch
und Blut zeigt, der grausam, kühl und distanziert war, aber auch über einen
feinen Sinn für Ironie verfügte und gerne wandern ging.
## In Hinterhöfen und Wohnstuben
Lange wurden nach Lenins Tod 1924 Details seiner Biografie in der
Sowjetunion ausgespart, etwa in Bezug auf seine Herkunft oder über den
Verlauf der Revolution. Keineswegs nämlich war er ein proletarischer
Großrusse, sondern der Sohn eines zum Adel aufgestiegenen Lehrers aus
Simbirsk an der Wolga, heute Uljanowsk. Allein schon wegen seiner Manieren
war das für Zeitgenossen offensichtlich.
Und die Revolution? Die war keine Massenerhebung, auch war sie nicht bis
auf den letzten Schritt von Lenin geplant. Sebestyen beschreibt, wie das
Leben in Petrograd seinen gewohnten Gang geht – Läden haben geöffnet, die
Straßenbahnen fahren –, während in Hinterhöfen und Wohnstuben die
Machtübernahme von einigen Chaoten vor allem herbeifantasiert wird. Die
Proletarier ahnten nicht, dass sie gerade von ihren kapitalistischen
Fesseln befreit wurden – dieser leise Witz taucht immer wieder in dem Buch
auf.
In den 1990er Jahren schließlich wurden in Russland Akten über Lenin
freigegeben. Sebestyen hat etliche Briefe und Protokolle gesichtet. Die
Detailfülle seines Buches beeindruckt und erschlägt den Leser gleichermaßen
– auch wenn die Sprache leichtfüßig und verständlich daherkommt. Das muss
sie, denn immerhin wird ein ganzes Leben nacherzählt, von Lenins
Kindheitsidylle, dem Tod des Bruders, dem Exil, der Spaltung der
Revolutionsgruppen und Krieg bis hin zu den ersten Jahren der Sowjetunion
und der Beisetzung des Revolutionärs.
Viel Raum gibt der Autor den Frauen in Lenins Leben: seiner Mutter Maria
Alexandrowna Blank, seiner Frau Nadeschda Krupskaja und seiner langjährigen
Geliebten Inessa Armand. Lenin pflegte zu Frauen ein vertrauensvolleres
Verhältnis als zu Männern. So freundlich und gesellig er sein konnte, die
meisten Menschen in seinem Umfeld ließ er nicht an sich heran, bevorzugt
siezte er sie.
Relevant sind diese Geschichtchen natürlich, weil Lenin der Begründer des
ersten sozialistischen Staates der Weltgeschichte war, und das auf der
größten zusammenhängenden Landmasse der Erde, ein wahnsinniges Projekt, das
unzähligen Menschen in den Lagern des Gulag den Tod brachte. „Seine Geburt
bedeutete ein sehr großes Unglück für das russische Volk“, hat Winston
Churchill einmal über Lenin gesagt. „Doch nicht minder schwer wog sein
Tod.“
## Das Postfaktische der Politik
Was kam nach Lenin? Was ist heute? Weil Sebestyen gelegentlich Ausblicke
auf die Zukunft, auf die Schrecken des Stalinismus, aber auch auf unsere
Zeit gibt, ist sein Buch umso relevanter. Es sind kurze Ausblicke,
Versatzstücke, die den Leser jedoch zum Nachdenken anregen.
Zum Beispiel verkündete Lenin den Sieg der Revolution bereits, als im
Winterpalais, dem Symbol des zaristischen Russland, noch die Regierung von
Alexander Kerenski zusammensaß: die erste Lüge der Sowjetunion und ein
Vorgriff auf das Postfaktische der Politik, das uns gegenwärtig
beschäftigt. Sebestyens Beschreibungen der sozialen Zustände im Zarenreich
und des Unmuts der Jungen und der Intelligenzija sind zudem Anregungen zur
Auseinandersetzung mit Möglichkeiten von Widerstand und Kritik.
Eine Biografie, die anlässlich eines Ereignisses, das hundert Jahre
zurückliegt, erscheint, kann kaum aktueller sein.
11 Nov 2017
## AUTOREN
Philipp Fritz
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