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> „Das Mädchen mit dem Fingerhut“ von Michael Köhlmeier wird am Deutschen | |
> Theater adaptiert | |
Von Julika Bickel | |
Da ist ein Mädchen, es friert und hat Hunger. Ganz allein und fremd ist es | |
in einer Stadt in Westeuropa. Man weiß nicht viel über das Kind, das sich | |
selbst Yiza nennt: Es ist sechs Jahre alt und spricht eine andere Sprache, | |
meist bleibt es stumm. Zunächst ist da ein Onkel, der sich um es kümmert, | |
doch plötzlich ist er nicht mehr da. Yiza kommt ins Heim, wo sie zwei | |
ältere Jungen kennenlernt: Schamhan und Arian. Gemeinsam flüchten sie, | |
irren durch den Schnee. | |
„Das Mädchen mit dem Fingerhut“ von Michael Köhlmeier ist eine zutiefst | |
erschütternde Erzählung, die vor einem Jahr als Buch erschien und nun am | |
Deutschen Theater aufgeführt wird. Eines der Hauptthemen ist die | |
Sprachlosigkeit, das Nichtverstehen. Der Roman beinhaltet kaum Dialoge. | |
Regisseur Alexander Riemenschneider und Dramaturgin Meike Schmitz haben den | |
Text gekürzt, doch sonst nicht verändert. | |
Am Anfang ist es der Schauspieler Thorsten Hierse, der die Geschichte | |
erzählt, seine Kollegin Kotti Yun ist das Mädchen, still und ängstlich | |
steht sie da, Tobias Vethake spielt am elektrischen Cello. Doch dann | |
übernimmt Yun den Sprechpart. Auf diese Weise funktioniert der Text als | |
Theaterstück: Hierse und Yun wechseln sich mit dem Sprechen ab und | |
kommentieren mit ritualisierten Bewegungen das Gesagte. Vethake findet | |
seine eigene, musikalische Sprache, er loopt Tonfolgen, die mal zart, mal | |
schroff klingen. Sie zittern, wenn sie schlafen, liegen gekrümmt auf dem | |
Boden. Als sie fliehen, halten sie sich an den Händen, ihre Münder zum | |
stillen Schrei geöffnet, während das Cello laute Dissonanzen spielt. Im | |
Hintergrund ein schwarzer Himmel mit Schneeflocken oder Sternen. Die drei | |
Schauspieler tragen beige Kleidung, ihre Gesichter sind bleich geschminkt. | |
Im Mittelpunkt der Inszenierung steht die lakonische und ausdrucksstarke | |
Sprache. In einfachen Sätzen schildert Köhlmeier die Welt aus der Sicht der | |
Kinder. Die Realität verschwimmt vor den Augen, und Bilder entstehen im | |
Kopf. Man stellt sich vor, wie die Kinder in ein Haus einbrechen und sich | |
die Bäuche vollschlagen – für einen kurzen Moment sind sie glücklich. Als | |
Yiza krank wird, nimmt eine ältere Frau sie bei sich auf, doch sie pflegt | |
sie nicht nur gesund, sie hält sie auch gefangen. Am Ende ist die Frau tot, | |
und Yiza lebt mit Arian und anderen Kindern wieder auf der Straße. | |
Mit seiner Erzählung bezieht sich der Autor auf den Mythos der Wolfskinder, | |
doch ist es unweigerlich auch ein Kommentar zur Situation von unbegleiteten | |
Flüchtlingskindern. Viele Motive und auftauchende Figuren erinnern an ein | |
Märchen, doch im „Mädchen mit dem Fingerhut“ gibt es keine klare | |
Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Der Text konfrontiert einen mit dem | |
eigenen Verhalten. Wem helfen wir und warum? Es ist der letzte Satz, der | |
besonders nachdenklich macht: „Die Freunde, das sind eine Horde von | |
Zerlumpten, die bereits zu alt sind für Mitleid und Rührung.“ | |
2 Nov 2017 | |
## AUTOREN | |
Julika Bickel | |
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