# taz.de -- Unter Druck | |
> In „Heilig Abend“ konfrontiert die Shakespeare Company die linke | |
> Philosophieprofessorin mit der anonymen Staatsgewalt | |
Bild: Zwischen der Linken und dem Staat sind die Fronten klar. | |
Von Eva Przybyla | |
Unvermittelt fragt der Verhörleiter: „Kam es zum Geschlechtsverkehr?“ Die | |
Verhörte hält entgeistert dagegen: „Sind Sie überhaupt Polizist?“ Judith | |
(gespielt von Ulrike Knospe) sitzt seit zehn Minuten fest in einem Büro, | |
dessen Einrichtung den Charme eines Jobcenters versprüht – ein trister | |
Furnierholztisch, darauf eine Thermokanne Kaffee. Ihr Gegenüber ist | |
vermutlich ein Beamter des Verfassungsschutzes. Genau weiß die verhörte | |
Philosophieprofessorin es nicht im Drama „Heilig Abend“ von Daniel | |
Kehlmann. Ihren beigefarbenen Kurzhaarmantel zieht sie nicht aus, als würde | |
sie glauben, dass sie jeden Moment freikommt. | |
Auf einer Prologveranstaltung im September waren sich die Experten einig: | |
Ein klarer Verstoß gegen die Rechte der Verhörten, sagten der Bremer Anwalt | |
Bernhard Docke und der Ex-Kriminalpolizist sowie innenpolitische Sprecher | |
der Bremer CDU-Fraktion, Wilhelm Hinners. Denn die Verhörte weiß nicht, wo | |
sie sich befindet und wer sie vernimmt. Sie hat keinen Anwalt und kennt die | |
Anklage nicht. „Alles nicht erfolgt, insofern realitätsnah“, kommentiert | |
Strafverteidiger Docke, der Murat Kurnaz verteidigt hat, und lacht. | |
Im Drama treffen an Heiligabend Staat auf Zivilperson, Verdächtiger auf | |
Verdächtigte. Und das unter Druck: Um Mitternacht soll eine Bombe | |
explodieren. Für das Verhör sieht das Zweipersonenstück exakt 90 Minuten | |
vor. Daran erinnert im Saal der Shakespeare Company auch die tickende Uhr, | |
die wie ein Schiedsrichter zwischen den Parteien hängt. Zu zwei Seiten der | |
quadratischen Bühnenplattform sitzt sich das Publikum auf beleuchteten | |
Tribünen gegenüber – wie im britischen Parlament, das bereits | |
architektonisch zu heftigen Streitereien anstachelt. Zum Streiten will | |
Regisseurin Petra Janina Schultz auch die ZuschauerInnen bringen: „Wenn sie | |
rausfinden wollen, ob die Bombe wirklich von der Figur Judith gelegt wurde, | |
müssen sie politisch diskutieren.“ | |
Das Stück behandelt Terrorgefahr von links, von einer marxistischen | |
Philosophieprofessorin, die in ihrem Seminar Kampfschriften verteilt hat. | |
Das seien doch nur Beispiele, behauptet Judith lachend. Der Beamte in | |
seinen grauen Hemdsärmeln könnte also einem abstrusen Verdacht zum Opfer | |
gefallen sein. | |
Es gelingt den beiden DarstellerInnen, das Verhör streckenweise wie einen | |
albernen Verwaltungsakt aussehen zu lassen, etwa als Verhörleiter Thomas | |
berichtet, wie er ihre sterbenslangweilige Doktorarbeit nach Hinweisen | |
durchsuchen musste. „So einen treuen Leser wie mich werden Sie niemals | |
finden“, sagt er. | |
Entgrenzte Datensammlerei war auch Thema der Vorbereitung dieser | |
Produktion. Im Foyer der Shakespeare Company gibt es dazu eine Ausstellung. | |
„Können Kameras wirklich Frieden stiften?“, dieser Frage geht | |
Kunststudentin Jutta Christina Eike in einer Fotoserie nach. Jan Sengstake | |
und Sven Rosehaben Bewegungsprofile mithilfe des Signals WLAN-suchender | |
Handys erstellt. | |
Und auch Strafverteidiger Docke und Innenpolitiker Hinners haben auf der | |
Bühne im September über die Frage gestritten: Darf der Verfassungsschutz | |
überhaupt so viele Daten sammeln und Verdächtige so unter Druck setzen, | |
selbst wenn ein Terrorverdacht vorliegt? | |
In Kehlmanns Stück, das erst im Februar in Wien uraufgeführt wurde, wird | |
dieses Dilemma verhandelt. Doch die Frontlinie, die klar zwischen Staat und | |
Zivilperson zu verlaufen scheint, wird im Laufe des Stücks wieder verlegt: | |
Judith kennt ihre Rechte und behauptet, sie sei nicht so erpressbar wie | |
diese „Dschihadidioten“. „Mit mir geht das nicht“, sagt sie triumphiere… | |
Denn die Philosophieprofessorin ist eine bekannte Intellektuelle, ihre | |
Verhaftung könnte zum Politikum werden. Überzeugend spielt Ulrike Knospe | |
die überhebliche Akademikerin. Ihr gegenüber sinkt der Beamte Thomas in | |
sich zusammen, gegenüber der intellektuellen Elite ein Kleinbürger mit | |
tiefen Komplexen, glaubwürdig gespielt von Markus Seuss. Bis zuletzt unklar | |
bleibt jedoch, ob der Beamte wirklich ein Versager ist oder dies nur | |
vorgibt, um der eitlen Professorin Informationen zu entlocken. | |
Fesselnd kriminalistisch enthüllt der Dialog Stück für Stück die Beweise | |
und damit die Persönlichkeit der verdächtigten Judith. Die minimalistische | |
Inszenierung sowie das klare Bühnenbild lassen dem Text dabei | |
größtmöglichen Raum. Doch oft erscheint der dichte und unveränderte | |
Stücktext eher wie ein Korsett denn wie eine Spielgrundlage. Die | |
DarstellerInnen haben keine Zeit für Momente der Ruhe, in denen sie ihre | |
intensive Rollenvorbereitung der letzten Wochen tatsächlich spielen | |
könnten. So bleibt die Beziehung der beiden Figuren zueinander blass, ihre | |
Interaktion hölzern und ihre Wege auf der Bühne sind zu vorhersehbar. | |
Ein wichtiger Faktor ist zudem die Stückzeit, die die Darsteller mühsam | |
trainieren mussten: „Das Zeitgefühl stellt sich durch Proben ein“, sagt | |
Markus Seuss. Am Premierenabend haben die DarstellerInnen pünktlich zwei | |
Minuten vor Mitternacht das Stück durchgespielt. Sie wirkten tatsächlich | |
erleichtert. | |
Termine: 21. 10., 20 Uhr, sowie 3., 16. und 29. 11., 19.30 Uhr, Theater am | |
Leibnizplatz | |
21 Oct 2017 | |
## AUTOREN | |
Eva Przybyla | |
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