# taz.de -- „Das ist eine Geiselnahme“ | |
> Die deutsch-türkische Journalistin Meşale Tolu sitzt in Istanbul im | |
> Gefängnis. Erst fünf Monate nach der Verhaftung wird ihr nun der Prozess | |
> gemacht. Wie fair kann er überhaupt sein? | |
Bild: Die Künstlergruppe „Wahrheitszeichner“ macht Zeichnungen von mehr al… | |
VonAli Celikkan | |
Es war der Morgen des 30. Aprils, an dem die Deutsche Meşale Tolu endgültig | |
das Vertrauen in den türkischen Staat verlor. An diesem Tag drangen | |
türkische Polizisten in ihre Wohnung in Kartal, einem Stadtteil im | |
östlichen Teil von Istanbul, ein. Die Beamten der Sicherheitsbehörde | |
pressten sie auf den Boden, verschränkten ihre Hände auf dem Rücken und | |
transportierten sie in das Frauengefängnis Bakırköy, einmal quer durch die | |
ganze Stadt, rund 40 Kilometer von ihrer Wohnung entfernt. Die Beamten | |
nahmen keine Rücksicht darauf, dass ihr Sohn Serkan, gerade mal zweieinhalb | |
Jahre alt, an diesem Morgen neben ihr stand. Dass er all das mit ansehen | |
musste, die Verhaftung und wie seine Mutter dann wie eine Verbrecherin in | |
Handschellen abgeführt wurde. | |
Der Vorwurf, den man ihr macht: Sie sei Mitglied in einer bewaffneten | |
terroristischen Vereinigung und sie hätte Propaganda verbreitet. Bis zum | |
Tag ihrer Verhaftung arbeitete Tolu als Journalistin für die | |
linksorientierte Nachrichtenagentur Etkin/ETHA. Nun sitzt sie in Bakırköy – | |
zusammen mit ihrem Sohn, den ihr ihr Großvater später brachte. | |
## Vorwürfe basieren auf einem anonymen Zeugen | |
Erst jetzt, am 11. und 12. Oktober, fünf Monate nach der Verhaftung, wird | |
sie vor ein Gericht gestellt – und darf sich verteidigen. Die Vorwürfe | |
basieren auf Aussagen eines anonymen, „geheimen Zeugen“. Die | |
Strafverteidigerin Kader Tonç sagt, die Aussagen des geheimen Zeugen seien | |
in sich widersprüchlich. Doch die Folgen könnten für die Journalistin | |
dramatisch sein: Wenn der Vorwurf der Mitgliedschaft in einer bewaffneten | |
Terrororganisation erst einmal erhoben ist, kann eine Höchststrafe von 20 | |
Jahren drohen: Die Türkei gilt nicht erst seit April als eines der weltweit | |
größten Gefängnisse für Journalisten. Rund 150 Reporter und Redakteure | |
sitzen derzeit in türkischer Haft. Seit dem Putschversuch gehen die | |
Behörden noch stärker gegen Journalisten vor, über 100 Medien ließ die | |
Regierung willkürlich schließen. | |
Auch im Fall von Tolu sind die Vorwürfe und der Grund der Verhaftung nicht | |
klar. Niemand weiß, wer der ominöse Zeuge ist, der die Anklage erhoben hat. | |
In der Anklageschrift heißt es wörtlich: „Ich kenne sie nicht persönlich. | |
Sie arbeitet im Namen der Terrororganisation Marxistisch-Leninistische | |
Kommunistische Partei (MLKP) in den Bereichsstrukturen des Gazi-Viertels. | |
Zudem beteiligt sie sich an Aktionen der Sozialistischen Frauenräte SKM, | |
der Frauenstrukturen namentlicher Organisation.“ | |
Tolu wird auch zur Last gelegt, vor Jahren an Protesten teilgenommen zu | |
haben, die infolge eines völlig legalen Aufrufs der legalen Partei ESP | |
(Sozialistische Partei der Unterdrückten) zustande kamen – ebenso wie die | |
Teilnahme am Begräbnis der im Dezember 2015 in Istanbul von der Polizei | |
getöteten Yeliz Erbay und an einer Gedenkveranstaltung für die beiden | |
Duisburger Ivana Hoffmann und Suphi Nejat Ağırnaslı, die jeweils in den | |
Reihen der syrisch-kurdischen Volksbefreiungseinheiten YPG gegen den IS | |
gekämpft hatten. Der Vater Ali Rıza Tolu sagt zu den Vorwürfen, seine | |
Tochter habe die Veranstaltungen zur Berichterstattung besucht. | |
Tolus Partner und Serkans Vater Suat Çorlu sitzt bereits seit dem 5. April | |
in Haft. Er ist Mitglied des Parteivorstands der ESP und ihm wird | |
vorgeworfen, zwischen 2013 und 2015 an Protesten zum folgenschweren | |
Grubenunglück in Soma und einer Reihe von Begräbnissen und | |
Gedenkveranstaltungen teilgenommen zu haben und deshalb „Mitglied einer | |
Organisation“ zu sein. Bis zu seiner Festnahme engagierte sich Suat Çorlu | |
auf den Straßen Istanbuls in der Kampagne „Nein zum Verfassungsreferendum“. | |
Die ESP ist eine legale politische Partei, zu deren Gründerinnen Figen | |
Yüksekdağ gehört, die derzeit inhaftierte ehemalige Vorsitzende der HDP. | |
Dass die ESP anders als jetzt behauptet keine Verbindungen zur verbotenen | |
MLKP unterhält, stellte am 20. Oktober 2014 die Ankaraner | |
Oberstaatsanwaltschaft fest. Dennoch hält die Regierung daran fest, die ESP | |
mit der MLKP in Bezug zu setzen und alle Teilnehmer*innen an Protesten, zu | |
denen die ESP aufruft, der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation zu | |
bezichtigen. Auch in Ulm, wo Meşale Tolu 1984 zur Welt kam, regt sich | |
Widerstand: Hier gehen ihre Schulfreundinnen, Lehrer und Angehörigen seit | |
19 Wochen auf die Straße, um sich für ihre Freilassung einzusetzen. Cengiz | |
Doğan ist einer, der mit protestiert. Erkennt sie seit seiner Kindheit. | |
„Wir fordern Freiheit für Meşale. Wir sehen keinen Grund für ihre | |
Inhaftierung. Deshalb wollen wir uns Gehör zu verschaffen“, sagt er. | |
Der Vater Ali Rıza Tolu geht davon aus, dass ihre deutsche | |
Staatsbürgerschaft eine große Rolle bei ihrer Verhaftung gespielt hat. Ihre | |
Verhaftung habe in erster Linie mit der Krise der deutsch-türkischen | |
Beziehungen zu tun. Er sagt: „Es gibt keinen Grund für ihre Inhaftierung.“ | |
Die türkische Regierung hat der deutschen 4.500 Fälle übermittelt, | |
Gülen-Anhänger, die nach Deutschland geflohen sind und die die | |
Bundesrepublik nun ausliefern soll. Bisher weigert sich aber die deutsche | |
Regierung. Ali Rıza Tolu sieht seine Tochter als eine politische Geisel. | |
„Ja, man muss es beim Namen nennen: Diese Verhaftung ist eine Geiselnahme“, | |
sagt er. Er hat seiner Tochter geholfen, aus der Haft heraus eine Botschaft | |
an die Öffentlichkeit zu richten. In ihrer Nachricht betont Tolu: Sie werde | |
nicht zulassen, im Tausch gegen eine ausgelieferte Person freigelassen zu | |
werden. | |
## Manche Briefe erreichen Meşale Tolu nicht | |
Die Anwältin Kader Tonç erklärt, Tolu habe das Gazi-Viertel, wo sie | |
angeblich im Untergrund gearbeitet haben soll, in ihrem ganzen Leben nur | |
einmal gesehen. Zwei Haftprüfungstermine hatte Meşale Tolu seit der | |
Veröffentlichung der Anklageschrift im August. Der Richter begründete die | |
Verlängerung der Untersuchungshaft dennoch in beiden Fällen damit, dass die | |
Beweisaufnahme noch nicht abgeschlossen sei. | |
„Dabei ist seit Vorlage der Anklageschrift kein einziges Beweismittel mehr | |
zu den Akten hinzugekommen“, sagt Anwältin Tonç. Nicht einmal zwischen der | |
ursprünglichen Haftbegründung vor fünf Monaten und der Anklageschrift sind | |
neue Vorwürfe oder Beweise hinzugekommen. Für Tonç sind sowohl die | |
Verzögerung der Anklageschrift als auch der Beschluss, mit geheimen Akten | |
zu operieren, rechtswidrig und zeigen, dass hier ein politisches Verfahren | |
vorläge. Meşale Tolu bekommt einen Teil der Briefe, die ihr ins Gefängnis | |
geschrieben werden, ausgehändigt. Andere werden von der Gefängnisleitung | |
zurückgehalten. Dennoch geht es ihr anscheinend gut, über körperliche | |
Probleme klagt sie nicht. Sie habe nichts zu bereuen und wolle nach ihrer | |
Entlassung weiter als Journalistin arbeiten. | |
Ali Rıza Tolu besucht seine Tochter jede Woche im Gefängnis. Nun sei die | |
erlaubte Besuchszeit von 45 auf 30 Minuten gekürzt worden. Als deutsche | |
Staatsbürgerin kann Meşale nur Besucher empfangen, die sich vorher um eine | |
Besuchsgenehmigung des Justizministeriums gekümmert haben. | |
## „Ich bin stolz an ihrer Seite zu stehen“, sagt ihr Vater | |
Ali Rıza geht jede Woche zweimal zum Ministerium: einmal, um den Antrag auf | |
Besuchsgenehmigung abzugeben, und einmal, um die Genehmigung abzuholen. An | |
einem weiteren Tag der Woche fährt er seinen Schwiegersohn im Gefängnis | |
besuchen und an einem vierten Tag seine Tochter und seinen Enkelsohn in | |
Bakırköy. „Ich bin ihr Vater. Ich stehe hinter meiner Tochter in allem, was | |
sie tut, mit allem, was ich habe. Auch wenn ich es manchmal mehr als satt | |
habe, ziehe ich das durch. Es erfüllt mich mit Stolz, an ihrer Seite stehen | |
zu können“, sagt er. | |
Auch Serkan sei lieber bei seiner Mutter als draußen, erzählt er. Er habe | |
im Gefängnis zwar kein normales Leben oder soziale Beziehungen zu | |
Gleichaltrigen, aber sein Großvater holt ihn immer wieder zu Ausflügen nach | |
Istanbul ab.Tolu ist eine von 18 Angeklagten in ihrem Verfahren. 14 von | |
ihnen sitzen in Untersuchungshaft. | |
Baki Selçuk, der Specher der Istanbuler Solidaritätsinitiative für Meşale | |
Tolu, weist darauf hin, dass die Verhandlungen nicht in einem | |
Gerichtsgebäude im Stadtraum stattfinden, sondern in einem eigens in der | |
Haftanstalt Silivri errichteten Verhandlungssaal. Für ihn ist das ein | |
Versuch, die Angeklagten fern von allen Blicken an einem Ort zu | |
verurteilen, der für die interessierte Öffentlichkeit schwer zu erreichen | |
ist. „Ein Blick in die Anklageschrift zeigt, dass viele Vorwürfe leicht zu | |
entkräften sind. Das ist ein politisches Verfahren. Wir sind der Meinung, | |
sie muss freigelassen werden – aber bei den derzeitigen Bedingungen in der | |
Türkei kann es gut sein, dass sie weiter sitzen muss.“ | |
Auch Anwältin Kader Tonç ist überzeugt, dass Meşale Tolu im Rahmen eines | |
fairen Verfahrens freigelassen werden müsste, und hält es für falsch, das | |
Verfahren auf einem Campus im Gefängniskomplex durchzuführen. Alle Vorwürfe | |
beziehen sich auf die Presse- und Meinungsfreiheit, sagt sie. | |
Was erhofft sich Ali Rıza von den Verhandlungen nächste Woche? „Falls der | |
Richter wirklich eigene Entscheidungen fällen kann, ohne von außen | |
beeinflusst zu werden, dann wird sie aus der Haft entlassen. Aber wenn | |
Richter und Staatsanwalt unter dem Befehl von Dritten stehen, wird meine | |
Tochter weiterhin als Geisel festgehalten“, antwortet er. Auch er ist | |
dabei, das Vertrauen in den türkischen Staat endgültig zu verlieren. | |
Übersetzung: Oliver Kontny | |
7 Oct 2017 | |
## AUTOREN | |
Ali Celikkan | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |