Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Patataz: Empfehlung des Chefs
> „Auf keinen Fall, sagte Erdoğan, dürfe man SPD, CDU oder Grüne wählen�…
> Aber wen dann? Barış Uygur macht sich auf die Suche. Und wird leider
> fündig.
Bild: *Ayran aus Susurluk, extra Schaum
Deutschland ist auf der Zielgeraden zur Wahl angelangt: Fahren in der Woche
vor dem 24. September nun Wahlkampfbusse mit Gejodel durch Osnabrück?
Schmücken überdimensionierte Merkel-Plakate Hochhäuser in Leipzig? Heizt
etwa Udo Lindenberg den Wählern vor Wahlkampfkundgebungen auf dem
Alexanderplatz ein?
Und machen Gerüchte wie: „In Bayern verteilt die CSU Weißwurst für
Wählerstimmen“, „Die Leute von der Linken machen die Kirchen zu
Schweineställen“ oder „Opus Dei hat die SPD gekapert“ die Runde?
Letztendlich hat ja jedes Land seine eigene Wahlkampftradition. Eins aber
sehe ich klar: Unser Chefbestimmer will sein Gewicht auch bei diesen Wahlen
geltend machen.
Eigentlich verständlich. Jeder hat ein guilty pleasure. Der eine kann
keinem Eis widerstehen, der andere vergisst sogar die Geburtstagsfeier des
Kindes, wenn die Rede auf Fußball kommt. Und unser Chef kann eben nicht an
sich halten, wenn er das Wort „Wahlen“ hört. So redete er beispielsweise
bei den türkischen Parlamentswahlen im Juni 2015 und bei der Wiederholung
der Wahl im November 2015 (an denen er offiziell gar nicht beteiligt war,
sondern neutral sein sollte, da Staatspräsident und so) mehr als alle
Kandidaten zusammen, und reiste von Stadt zu Stadt, um klarzumachen, wen
man wählen sollte.
Da wundert gar nicht, dass er jetzt versucht, die Stimmen deutscher
Staatsbürger*innen mit Türkei-Beziehungen zu steuern. Angeblich soll es
Länder geben, in denen Wahlaufrufe nur noch per Flüsterpost weitergegeben
werden – damit Erdoğan nichts mitbekommt und die Suppe versalzt. Ob da was
dran ist? Wer weiß.
## Man darf nicht alles vom Chefbestimmer erwarten
Auf keinen Fall, sagte Erdoğan, dürfe man SPD, CDU oder Grüne wählen. Ja,
wem soll man dann seine Stimme geben? Das versäumte er leider zu sagen.
(Anm. d.Red.: Er tat es dann doch, aber die Partei ist nur in
Nordrhein-Westfalen zugelassen. Mehr über die Kleinstpartei ADD erfahren
Sie [1][hier]). Aber man darf nun nicht alles vom Chefbestimmer erwarten.
Ich beschloss, mir selbst Gedanken zu machen.
Als erstes dachte ich an die Anarchistische Pogo-Partei Deutschlands APPD,
denn das war die einzige, die ich kannte. Außer denen, auf die der Chef
sauer war. Ob der Chef wollte, dass man die APPD wählt? Die APPD tritt für
Recht auf Arbeitslosigkeit bei vollem Lohnausgleich ein, für die Aufhebung
des Schulzwangs, für die Freigabe sämtlicher Drogen und für die
Balkanisierung Deutschlands. Eine ihrer Wahlparolen lautet: „Saufen!
Saufen! Jeden Tag nur saufen!“, sie riecht schon sehr nach der von Timur
Selçuk in seinem Song İspanyol Meyhanesi beschriebenen Kaschemme.
Als ich ihre Wahlspots anschaute, nahm ich Abstand. Die APPD war ja nicht
mal für Deutschland „lokal und national“, wie der Chef es immer wieder
forderte, geschweige denn für die Türkei. Allah behüte, sie könnte die
Bürger im Land womöglich auf dumme Gedanken bringen. Aus demselben Grund
fiel auch die BGE gleich durch das Raster, die für jeden Bürger ein
bedingungsloses Grundeinkommen fordert.
## Weltmeister im Rückwärtslaufen
Dann entdeckte ich die V-Partei. Ihr Vorsitzender ist der Weltmeister im
Rückwärtslaufen Roland Wegner. Das könnte eine gute Alternative sein, um
Deutschland, von dem es doch heißt, es „gehe immer zu weit“, auf Spur zu
bringen, aber V steht unter anderem für vegan. Also, die Türken, die ich
kenne, würden keiner Veganer-Partei ihre Stimme geben, nicht mal, wenn
Chefie es verlangt.
In Zeiten, da zigtausende Websites – wie Wikipedia – verboten und Twitter,
Facebook und Youtube von der türkischen Regierung verhasst sind und man in
der Türkei ohne anonyme VPN-Dienste sowieso nicht mehr ins Internet kommt,
geht die Piratenpartei schon mal gar nicht.
Auch die Bayernpartei, die für die Unabhängigkeit von Bayern eintritt,
schob ich gleich beiseite. Wenn der Chef eine separatistische Partei im
Ausland unterstützt, gäbe das im Inland Probleme. Mein Blick fiel auf die
„bergpartei, die überpartei“, ich wollte sehen, wofür die wohl eintreten.
Hätte ich das bloß gelassen! Die sind ja gegen Großprojekte! Leute,
begreift ihr denn nicht, ohne Brot geht es zur Not! Niemals nie ohne
Großprojekte!
## Geschälte Tomaten, unreife Avocados
Die Frauenpartei musste ich ebenfalls streichen. Denn Chef hatte mal
gesagt, die Gleichberechtigung von Mann und Frau widerspreche der Natur.
Selbst wenn eine Frau, die kein Kind geboren hat, Professorin sei, wäre sie
nur eine halbe Existenz. Ermutigt vom Chef, verglichen andere
Möchtegernchefs dann unverhüllte Frauen mit geschälten Tomaten und
kinderlose Frauen mit unreifen Avocados. Die Frauenpartei kam also nicht
infrage.
Die Ökologisch-Demokratische Partei vielleicht? Völlig unmöglich, deren
Kurzform lautet ja ÖDP. Das wäre ja noch schöner, wenn die Leute sich daran
gewöhnen und bei den Wahlen in der Türkei die links-ökologische ÖDP (die
Partei für Freiheit und Demokratie) wählen!
Aber die Sozialistische Gleichheitspartei SGP, die könnte es sein. Chef war
ja den Trotzkisten in der Türkei zu Dank verpflichtet, auch wenn er den
Namen ihrer Partei falsch aussprach, Die Trotzkisten hatten Erdoğan lange
unterstützt. Auf dem Twitter-Account der SGP sah ich auch gleich, dass die
deutschen Trotzkisten Erdoğan gegenüber Sympathien hegten. Oh Gott! War
Erdoğan etwa Trotzkist oder waren die Trotzkisten Anhänger vom Chef? In der
Krise mit Holland hatten sie Erdoğan unterstützt und den Niederlanden
vorgeworfen, provoziert zu haben, und sie lasen die
ultranational-islamistische Yeni Şafak (Neue Morgenröte) und glaubten auch
noch daran. Offenbar glaubten an diese Zeitung auf der ganzen Welt nur die
Trotzkisten in der Türkei und die in Deutschland. Ob Erdoğan auf die SGP
verweisen wollte? Die behielt ich erstmal im Hinterkopf.
## Brudi Serdar Somuncu als Kanzlerkandidat
Als nächste war die Partei an der Reihe, also „Die Partei“. Von denen hör…
ich zum ersten Mal und guckte mir deshalb ihr Programm genauer an. Oh, da
hatte ich die gesuchte Partei wohl gefunden. Ihre Versprechungen klangen
vernünftig, aber als ich weiter recherchierte, wurde auch klar, warum. Die
Partei war von Kollegen der Satirezeitschrift Titanic gegründet worden.
Unseren Brudi Serdar Somuncu hatten sie als Kanzlerkandidaten aufgestellt.
Schon kam Euphorie auf. Aber um ehrlich zu sein: es hätte mich gekränkt,
wenn der Chef um Stimmen für eine deutsche Satire-Partei warb, während sich
die Zeitungskioske in der Türkei kaum trauten, Satire-Magazine zu
verkaufen. Und alle naslang Satiriker wegen Beleidigung des
Staatspräsidenten verklagt wurden.
Trotzdem rief ich meine Tante in Deutschland an und sagte, wähl' bitte Die
Partei. „Schön“, meinte sie und fragte: „Aber welche meinst du denn? Es
gibt doch so viele Parteien!“ „Tantchen, ich sag’s doch, Die Partei, die
Partei heißt eben Die Partei“, bemühte ich um Erklärung, aber da war mein
Guthaben auch schon weg.
## Die AfD ist auf Erdoğan angewiesen
Was blieb, war die AfD. Ich nahm sie genau unter die Lupe. Hass auf die
Presse? Check. Gute Beziehungen zu beinahe paramilitärischen Gruppen?
Check. Abtreibungsgegner? Check. Fonds zur Unterstützung traditioneller
Familien? Check. Neue Station für Ultranationalisten? Check. Gegen alle
Glaubensrichtungen außer der eigenen Religion oder Konfession? Check.
Mindestlohn ist zu hoch? Check. Gegen muttersprachlichen Unterricht für
alle? Check. Frauenfeindlich? Check.
Scherz beiseite, da hatte Erdoğan also offenbar die aus der Türkei
stammenden WählerInnen in Deutschland auf die AfD verwiesen. Wirklich, ich
konnte keine andere Partei finden, die so viel Übereinstimmung mit unserem
Chef aufweist. Die AfD war gegen Migranten und Erdoğan brauchte Leute, die
Migranten als Trumpf ausspielten. Selbst an den Punkten, wo sie offiziell
unterschiedlicher Auffassung waren, ergänzten sie einander. Es sah ganz so
aus, als wäre die AfD auf Erdoğan und, mit Verlaub, Erdoğan auf die AfD
angewiesen. Vielleicht wäre das gar nicht so schlecht, dachte ich. Könnte
doch sein, dass die AfD, wenn sie mitkriegte, dass Erdoğan sie favorisiert,
sich fragt: „Alter, was machen wir hier eigentlich?“ Naja, vielleicht.
Wie auch immer, Freunde in Deutschland, alles Gute zur Wahl! Passt auf die
Wahlurnen auf, achtet auf nicht autorisierte Stimmzettel, vergesst auch die
Taschenlampe nicht, wenn es ans Auszählen geht. Denn das alles braucht es
bei Wahlen, in die sich unser Chef einmischt. Wir sind daran gewöhnt
–nicht, dass es euch unvorbereitet trifft.
17 Sep 2017
## LINKS
[1] https://gazete.taz.de/article/?article=!5443813&searchterm=add
## AUTOREN
Barış Uygur
## TAGS
taz.gazete
Politik
Lesestück Meinung und Analyse
taz.gazete
## ARTIKEL ZUM THEMA
Debatte SPD als Oppositionspartei: Wählt sie ab!
Die SPD wird die Wahl verlieren – und das ist auch gut so. Wer die
Sozialdemokratie erhalten will, muss sie jetzt in die Opposition schicken.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.