# taz.de -- Kanzlerin Angela Merkel im Interview: Einsatz für Deniz „auf all… | |
> Merkel spricht mit der taz über Zuwanderung und Abschiebungen. Deniz | |
> Yücel und Meşale Tolu sind ebenfalls Thema. | |
Bild: Angela Merkel im taz-Interview | |
Ihr jüngerer Bruder Marcus war während der Wendezeit bei Bündnis 90. Warum | |
sind Sie damals eigentlich nicht bei Bündnis 90 und dann den Grünen | |
gelandet? | |
In der Tat habe ich im Herbst 1989 einen Suchprozess durchgemacht. Ich war | |
beim Demokratischen Aufbruch und bei der SDP, wie die Sozialdemokraten in | |
der DDR damals noch hießen, und ich habe mir natürlich auch das Neue Forum, | |
den Vorläufer von Bündnis 90, angesehen. Aber das Neue Forum stand für den | |
sogenannten dritten Weg, eine demokratisch erneuerte DDR, und daran glaubte | |
ich nicht. Ich gehörte zu denen, die die schnelle deutsche Einheit wollten, | |
die soziale Marktwirtschaft. Schon am Tag der Maueröffnung haben etliche | |
meiner Freunde das ganz anders bewertet als ich. So bin ich beim | |
Demokratischen Aufbruch gelandet und schließlich in der Allianz für | |
Deutschland, in der wir dann mit der Deutschen Einheit 1990 CDU-Mitglieder | |
wurden. | |
Ist irgendwas an Ihnen links? | |
Ich kann mit solchen Schubladen wenig anfangen. Schauen Sie, erst mal bin | |
ich CDU, mit der ich liberale, christlich-soziale und konservative Wurzeln | |
gleichermaßen verbinde. Mir ist die menschliche Gestaltung der | |
Globalisierung wichtig, ebenso wie das Thema Nachhaltigkeit, also | |
Generationengerechtigkeit, nachhaltige Finanzen und Ressourcenverbrauch. | |
Daran habe ich immer gearbeitet. | |
Aber nichts Linkes. | |
Sie möchten gerade definieren, was ich nicht bin, und ich antworte jetzt | |
damit, was ich bin. Aus den liberalen, christlich-sozialen und | |
konservativen Wurzeln der CDU, die ich sehr achte, ergeben sich bestimmte | |
Berührungspunkte mit dem, was man gemeinhin links nennt. Nehmen Sie zum | |
Beispiel das Christlich-Soziale: Die christliche Soziallehre hat auch | |
Berührungspunkte mit sozialdemokratischem Denken, die CDU hat sich zum | |
Beispiel immer zur wichtigen Rolle der Gewerkschaften bekannt, denn es ist | |
immer wichtig, sowohl über das Erwirtschaften des Wohlstands als auch über | |
gerechte Verteilung zu sprechen. Ich weiß nicht, ob das für Sie links ist | |
oder nicht – für mich ist es christlich-sozial oder anders gesagt CDU pur. | |
Was sagen Sie: Leiden die Grünen mittlerweile darunter, dass sie sich zu | |
weit von ihren linken Wurzeln entfernt haben und auf Sie und die | |
bürgerliche Mitte zubewegt haben? | |
Auch die Grünen haben ja aus meiner Sicht unterschiedliche Wurzeln. Eine, | |
wie ich es sagen würde, sehr staatskritische Wurzel und eine, bei der es um | |
die Bewahrung der Schöpfung geht. Bei diesem behutsamen Umgang mit der | |
Schöpfung sehe ich große Nähe zu meinen Überzeugungen in der CDU. Und | |
dennoch gibt es auch eine sehr starke Staatskritik, die wir in der CDU und | |
ich persönlich überhaupt nicht teilen. | |
Worin sehen Sie die Aufgabe der Grünen im Parteienspektrum? | |
Es ist nicht an mir, den Platz der Grünen im politischen Spektrum zu | |
definieren. Das würde ich umgekehrt auch nicht mögen. Wichtig scheint mir, | |
dass sie sich immer wieder neue Themen erarbeiten, weil sich manche Themen, | |
zum Beispiel die Kernenergie, weitgehend erledigt haben. Ich stelle mir | |
vor, dass die humane Gestaltung der Globalisierung auch für die Grünen ein | |
spannendes Thema sein kann. | |
Frau Merkel, in den ersten Wochen der großen Flüchtlingsdebatte, am 15. | |
September 2015, haben Sie hier im Kanzleramt eine Pressekonferenz gegeben. | |
Auf die Frage, ob Sie Flüchtlinge zum Kommen nach Deutschland animiert | |
haben, erwiderten Sie: „Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu | |
müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, | |
dann ist das nicht mein Land.“ Hatten Sie sich den Satz vorher überlegt? | |
Nein, ich hatte mir den Satz nicht zurechtgelegt. Er kam auf eine | |
Nachfrage, was ich zu dem Vorwurf sagen würde, dass ich durch mein Vorgehen | |
Flüchtlinge zur Flucht animiert hätte. | |
Der Selfie-Vorwurf. | |
Unter anderem. Ich fand das abwegig, in zweierlei Hinsicht. Einmal waren | |
bis zu dieser Aussage im Sommer 2015 schon rund 400.000 Flüchtlinge | |
gekommen. Es gab außerdem Mitte August eine Prognose des | |
Bundesinnenministeriums von 800.000 Flüchtlingen für das gesamte Jahr. Zum | |
Schluss kamen rund 890.000, wir lagen also nicht ganz daneben. Das Zweite | |
war, dass es ja gar nicht allein meine Haltung war, sondern die der | |
Menschen am Bahnhof in München und anderswo, der vielen Menschen, die die | |
Geflüchteten freundlich aufgenommen haben. In dieser Situation habe ich | |
gesagt: Wenn man Menschen hilft und kein freundliches Gesicht dazu machen | |
darf, dann ist das nicht mein Land. Das war spontan. Es kam aus meinem | |
Innersten. Weil das meine Überzeugung ist. | |
Viele Linke und Linksliberale, auch viele taz-Leser haben damals gestutzt: | |
Ups, dürfen wir Merkel gut finden? Und in der taz entstand ein Titel, der | |
das mit Herzen thematisierte. | |
Wir haben ja gerade über die christlich-sozialen Wurzeln der Parteien | |
gesprochen. In diesem Sinne war mein Satz eine Aussage, die genauso im | |
Einklang mit Prinzipien der CDU wie mit Prinzipien anderer Menschen und | |
sicher auch anderer Parteien stand. | |
Waren die Sympathiekundgebungen von links damals ein ernster Hinweis für | |
Sie, wie weit weg Sie sich zu diesem Zeitpunkt von Ihren Konservativen | |
entfernt hatten? | |
Nein. Auch viele in der Union haben es ja durchaus unterstützt, die | |
Flüchtlinge aus Ungarn nach Deutschland einreisen zu lassen. Erst waren | |
diese Menschen mit Zügen gekommen, dann zu Fuß, weil Ministerpräsident | |
Orbán ihnen urplötzlich die Reisemöglichkeit entzogen hatte. Die großen | |
Meinungsunterschiede drehten sich viel mehr um die Frage: Wie geht es | |
weiter? Mir war klar: so natürlich nicht, denn kriminelle Schlepper und | |
Schleuser verdienten mit dem Elend der Flüchtlinge ihr Geld. Deshalb habe | |
ich ab Anfang September an diesem EU-Türkei-Abkommen gearbeitet, nachdem | |
ich schon den ganzen Sommer darüber nachgedacht hatte. Das ist viele | |
Monate ja gar nicht beachtet worden. Ich war dann, vorsichtig formuliert, | |
sehr erstaunt, dass das Abkommen, als es Mitte März 2016 abgeschlossen | |
werden konnte, auf eine so negative Bewertung stieß, und zwar | |
parteiübergreifend. Trotzdem war das der einzige Weg, eine gewisse Ordnung | |
und Steuerung in diese Sache zu bringen, und zwar so, dass es auch im | |
Interesse der Zuflucht suchenden Menschen ist und das Sterben in der Ägäis | |
aufhören kann. | |
Sie haben das freundliche Gesicht gegen ein hartes, strenges ausgetauscht. | |
Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte, vor allem | |
Syrer. Die Möglichkeit, psychisch Kranke abzuschieben. Abschiebungen ohne | |
Ankündigung, Abschiebungen nach Afghanistan. Ist dieses Land damit immer | |
noch „ihr Land“? | |
Ja, dies ist mein Land, denn wir geben jedem, der in Deutschland um Asyl | |
bittet, die Chance, einen Antrag zu stellen, und wir schaffen bessere | |
Lebensbedingungen vor Ort, in dem wir Fluchtursachen bekämpfen. Zugleich | |
müssen wir auch deutlich machen, dass es Regeln gibt. An der Stelle finde | |
ich übrigens, dass die grüne Programmatik sehr unklar ist. Sie drückt sich | |
um die schweren Fragen. Wir helfen Afrika doch nicht, indem wir sagen, dass | |
wir jeden aufnehmen, der kommen möchte. Wir müssen ganz anders an die Sache | |
herangehen: Flucht- und Migrationsursachen bekämpfen, zu besseren | |
Lebensbedingungen beitragen und Perspektiven in den Heimatländern schaffen, | |
legale Wege der Migration finden, statt den Schleppern die Hand zu reichen. | |
Deshalb gehören zu unserem humanitären Asylrecht auch die strengen Regeln. | |
Im Übrigen kann man eine Rückführung mit einem freundlichen Gesicht | |
verbinden. | |
Wie soll das gehen, Abschiebungen mit einem freundlichen Gesicht? | |
Es ist ohne Zweifel ein schwerer Weg, den dieser Mensch gehen muss, aber | |
auch dabei kann und soll man ihm mit Respekt und Menschlichkeit begegnen. | |
Wir sollten nicht die einfache Botschaft senden, dass Millionen Menschen | |
zum Beispiel aus Afghanistan bei uns eine neue Heimat finden, sosehr ich | |
auch Verständnis für wirtschaftliche Not habe. In diesen Fragen, das sage | |
ich ganz offen, spüre ich, wie schwer politische Verantwortung auch sein | |
kann. Ich sehe die individuellen Schicksale – aber ich muss auch ordnen, | |
steuern und darauf achten, dass Illegalität nicht noch gefördert wird. Das | |
würde niemandem helfen. | |
Sie haben Afrika angesprochen. Um Flüchtlinge dort aufzuhalten, paktieren | |
Sie mit dem verbrecherischen Regime im Sudan. Das bekommt sogar 100 | |
Millionen Euro von der EU, die deutsche Gesellschaft für Internationale | |
Zusammenarbeit schult sudanesische Polizisten. Ist das „ihr Land“, ein Land | |
also, das mit dieser weltweit geächteten Diktatur zusammenarbeitet? | |
Wenn in Deutschland über Afrika und Migration gesprochen wird, geht es | |
meist um die Menschen, die von Libyen nach Italien kommen. Was oft zu wenig | |
gesehen wird: Auf dem Kontinent selbst gibt es enorme | |
Binnenfluchtbewegungen. Wir legitimieren natürlich überhaupt nicht das | |
Regime im Sudan. Wir gehören zu denen, die den dortigen Präsidenten | |
al-Baschir boykottieren. Dennoch stellt sich die Frage, welche und wie viel | |
Entwicklungszusammenarbeit trotzdem sinnvoll ist und wie man Staatlichkeit | |
dort festigt. | |
Der ehemalige Sudan-Ermittler der UN, Jérôme Tubiana, sagt, es sei „eine | |
Schande“, dass die GIZ sich auf so eine Zusammenarbeit einlasse. Es sei bei | |
solchen Trainings unklar, wer ein Scherge sei, egal welche Uniform er | |
gerade trage. | |
Sehen Sie, der Sudan ist ein wichtiges Transit-, Herkunfts- und | |
Aufnahmeland von Flüchtlingen am Horn von Afrika. Fast 400.000 Flüchtlinge | |
haben dort Zuflucht gefunden, vor allem aus Südsudan und Eritrea. Sudan ist | |
somit ein Schlüsselland für die Bewältigung der Migration am Horn von | |
Afrika. Wir wollen gezielt gegen Schleusertum, Menschenhandel und illegale | |
Migration vorgehen. Dazu arbeiten wir mit der EU, den Vereinten Nationen | |
und internationalen Organisationen wie IOM an der Verbesserung der | |
Lebensbedingungen von Flüchtlingen, Verbesserung des Grenzschutzes, bei der | |
Rückkehr und bei Informationskampagnen eng zusammen. | |
Grenzmanagement-Maßnahmen werden dabei als Teilbereich des so genannten | |
Migrationsmanagements durchgeführt. Dabei soll etwa erreicht werden, dass | |
Beamte des Grenzmanagements Schutzbedürftige, also zum Beispiel Betroffene | |
des Menschenhandels, erkennen und sie unter Beachtung aller internationalen | |
Standards an die zuständigen staatlichen beziehungsweise | |
zivilgesellschaftlichen Stellen weitervermitteln. Dabei prüfen wir sehr | |
sorgfältig, mit wem wir zusammenarbeiten. | |
Nach Deutschland darf man allein aus politischen, aus humanitären Gründen. | |
Es fehlt die zweite Tür. Würde ein viertes Kabinett Merkel ein | |
Einwanderungsgesetz schaffen? | |
Wir haben in unser Regierungsprogramm geschrieben, dass kein freier | |
Arbeitsplatz unbesetzt bleiben darf, und wir haben uns in dem Zusammenhang | |
erstmals ausdrücklich auch zu einem Fachkräfte-Zuwanderungsgesetz bekannt. | |
Es gibt ja heute schon Mechanismen, etwa die Blue Card. Zum Teil haben wir | |
aber auch noch eher komplizierte Prozeduren. | |
Nirgendwo steht ganz oben: Einwanderung nach Deutschland ist möglich. | |
Einwanderung nach Deutschland ist eine Realität. Wir haben den europäischen | |
Binnenmarkt und damit die Freizügigkeit für jeden Europäer. Im | |
Regierungsprogramm bekennen wir uns dazu, dass wir Zuwanderung brauchen. | |
Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass wir mit afrikanischen Ländern | |
Kontingente vereinbaren, wonach eine bestimmte Anzahl von Menschen hier | |
studieren oder arbeiten kann. So würden wir Anreize dafür schaffen, legale | |
Wege zu finden. Nur zu sagen, Illegalität geht nicht, und gar nichts | |
anzubieten, ist falsch. | |
Geht es Ihnen da also um „nützliche“ Flüchtlinge? | |
Nutzen finde ich im Zusammenhang mit Menschen einen falschen Begriff. | |
Flüchtlingen, die nach Deutschland gekommen sind, müssen wir Schutz vor | |
Krieg und politischer Verfolgung gewähren. Bei Menschen, die zu uns aus | |
wirtschaftlichen Gründen kommen wollen, geht es natürlich darum, dass | |
diejenigen kommen, die wir brauchen, Pflegekräfte beispielsweise. Aber eine | |
Einwanderung in ein Studium oder eine Arbeitsmöglichkeit ist auch im | |
Interesse der Migranten und eröffnet ihm oder ihr neue Chancen. | |
Noch eine Frage, die uns wichtig ist. Unser Kollege Deniz Yücel sitzt immer | |
noch in der Türkei in Haft. Warum konnten Sie bisher nicht erreichen, dass | |
er freikommt? | |
Wir setzen uns auf allen Kanälen für ihn ein. Das ist leider sehr | |
kompliziert, weil Deniz Yücel Doppelstaatler ist und wir da konsularisch | |
nicht so viele Rechte haben. Trotzdem tun wir alles in unserer Macht | |
Stehende für ihn, öffentlich, aber vor allem auch in unseren Kontakten mit | |
türkischen Behörden. Wir sorgen uns auch um Mesale Tolu und Peter Steudtner | |
und die weiteren Inhaftierten. Wir haben die Reisehinweise für die Türkei | |
verändert und gehen weit restriktiver an wirtschaftliche Kontakte heran. | |
All das hat leider bisher noch nicht zur Freilassung Ihres Kollegen | |
geführt, aber nichts würde ich mir mehr wünschen als das. | |
Die folgende Version des Interviews ist in Passagen gekürzt. Die | |
ausführliche Version des Interviews finden Sie [1][hier.] | |
31 Aug 2017 | |
## LINKS | |
[1] /Angela-Merkel-im-taz-Interview/!5437094/ | |
## AUTOREN | |
Georg Löwisch | |
Anja Maier | |
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