# taz.de -- Kurdische Frauenzeitung in der Türkei: „Wir sind die Stimme jung… | |
> Der männliche Staat der Türkei fühlt sich durch die reine Frauenzeitung | |
> bedroht. Eine Redakteurin erzählt von der Arbeit unter Repressionen. | |
Bild: Redaktionssitzung bei der Zeitung Şûjin | |
## Aktualisierung (25.08.2017, 10:35 Uhr): Mit einem Notstandsdekret, | |
erlassen in der Nacht zum Freitag, den 25. August 2017, wurden drei | |
kurdische Medienorganisationen, darunter die Zeitung Şûjin geschlossen. Die | |
Medienorganisationen wurden zudem enteignet. Jegliches Eigentum, darunter | |
redaktionelle Dokumente, sind an den Staat übergegangen. | |
Nachdem die erste Frauenagentur der Welt – die von kurdischen Frauen als | |
Pionierinnen gegründete „Jinha“ – verboten wurde, riefen die Erbinnen | |
derselben Tradition im Dezember 2016 die Zeitung Şûjin ins Leben. So sollte | |
die entstandene Lücke gefüllt werden. Getreu dem Slogan „mit der Packnadel | |
in die Sprache der Medien“ macht die Zeitung Frauenberichterstattung und | |
erscheint neben den kurdischen Dialekten Kurmancî, Kirmanckî und Soranî | |
auch auf Türkisch, Englisch und Arabisch. In Amed (Diyarbakır), Istanbul | |
und Van sind insgesamt 45 Reporterinnen tätig, alle ehrenamtlich. | |
Bereits im Juni sperrte die türkische Regierung den Zugang [1][zur Website | |
von Şûjin]. Wir sprachen mit Şûjin-Redakteurin Kibriye Evren darüber, wie | |
die Mitarbeiterinnen trotz der Repressionen ihre Motivation bewahren. | |
taz.gazete: Gibt es männliche Mitarbeiter bei Şûjin, Frau Evren? | |
Kibriye Evren: Nein. Hier arbeiten nur Frauen, von der Technikerin bis zur | |
Kamerafrau, von der Redakteurin bis zur Korrespondentin. | |
Was unterscheidet weibliche Berichterstattung von anderer? | |
In der Türkei und in Kurdistan gibt es zahlreiche Medien, die sich als | |
regierungskritisch einstufen, doch alle sind weit entfernt von | |
frauenfokussierter Berichterstattung. Die von Männern dominierte Sprache | |
geht soweit, dass sie Frauen als schuldig hinstellt. Männer sprechen, | |
schreiben, zeichnen im Namen von Frauen. Im Feld gibt es unzählige | |
Reporter, aber kaum Reporterinnen. Weibliche Berichterstattung ist ein | |
Bedürfnis und das war die Hauptmotivation von „Jinha“. In den fünf Jahren | |
ihrer Existenz war sie mit demFokus auf Frauen tätig, kritisierte auch | |
schon die dominante Mediensprache und machte sich keinen Kopf darüber, was | |
die Männer denken. Şûjin geht diesen Weg weiter mit einem Verständnis, das | |
all dies verinnerlicht. | |
Auf Ihrer Seite gibt es Dossiers, Frauenporträts, Diskussionsbeiträge über | |
Jineologie (Frauenwissenschaft aus kurdischer Perspektive) und Feminismus. | |
Wie finden Sie bei der Fülle von Tagesnachrichten noch Zeit für solche | |
Themen? | |
Wir beschränken uns nicht darauf, Ereignisse, Zustände, Entwicklungen des | |
Tages wiederzugeben, wir geben auch Beiträgen Raum, die all diesem auf den | |
Grund gehen, die nach Ursache und Wirkung fragen und Lösungen vorschlagen. | |
Beispielsweise beschäftigt Şûjin sich nicht nur mit Gewalt gegen Frauen, | |
wir zeigen auch, welche Rolle die Frau beim Wiederaufbau spielt und machen | |
sie in kulturellen, sozialen, politischen, wirtschaftlichen Bereichen | |
sichtbarer. Aber auch auf der Straße und im Haus. Zugleich sind wir die | |
Stimme junger Frauen. Wenn wir männliche Sprache und Mentalität entlarven, | |
fühlt sich – das liegt in der Natur der Sache – der männlich dominierte | |
Staat „gestört“. | |
Mit welchen Schwierigkeiten sind Reporterinnen bei Recherchen vor Ort | |
konfrontiert? | |
Unsere Reporterinnen werden massiv von der Polizei belästigt und bedroht. | |
Im Feld werden sie registriert, fotografiert, festgenommen, willkürlich | |
werden Personalien aufgenommen. Es fehlt auch nicht an Drohanrufen. Manche | |
erdreisten sich sogar, Anweisungen zu geben wie: „Zieht diesen Bericht | |
zurück!“ und drohen: „Fürchtet euch vor den Folgen, wenn ihr ihn nicht | |
zurückzieht!“ Man versucht, uns daran zu hindern, vor Ort zu recherchieren. | |
In Zeiten von Ausgangssperren kommt es zu erheblichen Übergriffen auf jene, | |
die sich nicht daran halten. Vor allem Kolleginnen, die in den Zonen der | |
Selbstverwaltung tätig sind, sind ständig von Verhaftung bedroht. | |
Warum? | |
Weil sie aus Frauenperspektive enthüllen, zu welcher Brutalität, zu welchen | |
Massakern es dort kommt. Neben dem Blutvergießen und der Zerstörung dort, | |
haben sie Vorfälle von Belästigung, Vergewaltigung und Kindesmissbrauch | |
aufgedeckt. Das alles ist Staatspolitik, also eine männliche | |
Geisteshaltung. Solche Übergriffe sind es, denen wir ausgesetzt sind, in | |
den 15 Jahren der AKP-Regierung hat sich die Dosis noch erhöht. Vor allem | |
nach dem 15. Juli ist es enorm schwierig geworden, in der Türkei und in | |
Kurdistan als Journalistin tätig zu sein. Einrichtungen wurden geschlossen. | |
„Jinha“, die erste Frauenagentur der Welt, gehörte mit zu den ersten, auf | |
die man es abgesehen hatte. | |
Wie halten Sie Ihre Arbeitsmotivation angesichts dieser Repressalien | |
aufrecht? | |
Die kurdische Presse basiert auf einer soliden Tradition. Ungeachtet aller | |
Anschläge, Bombardierungen, Festnahmen, Verhaftungen, Zensur und als | |
„unaufgeklärt“ etikettierten staatlichen Morde geht sie unbeirrt ihren Weg | |
weiter. Etlichen unschuldigen Menschen kostete diese Tradition das Leben. | |
Darum sind wir uns stets bewusst, aus welcher Tradition wir kommen, wenn | |
wir im Feld tätig sind. Diese Kraft ziehen wir daraus, dass wir der | |
Wahrheit auf der Spur sind und über Tatsachen berichten. | |
„Die Wahrheit“ schreiben zu wollen, ist dieser Tage ziemlich gefährlich und | |
schwierig … | |
Ja, die Wahrheit wird derzeit besonders schlimm verdreht und Tatsachen ins | |
Gegenteil verkehrt. Vor allem in Kurdistan werden Fakten verschleiert. Die | |
Gesellschaft erhält keine vernünftigen Informationen, die männliche | |
Gesinnung kann sich in Gestalt der AKP-Regierung besonders gut durchsetzen. | |
Selbst wir können klar erkennen, wenn wir – abgesehen von alternativen | |
Medien – die Presse verfolgen, wie die Wahrnehmung von einem einzigen | |
Zentrum aus gesteuert wird und wie diese Wahrnehmung tatsächlich die | |
Gesellschaft formt. Aus diesem Grund sind alternative Medien eine | |
Luftröhre. Die Frauen haben das Gefühl, dass sich jemand ihrer annimmt. | |
Dass die Täter benannt werden, wenn Frauen belästigt, vergewaltigt oder | |
missbraucht wurden, und eine Berichterstattung, die widerspiegelt, dass | |
Frauen existieren, gibt Frauen Sicherheit. | |
Ihre Reporterinnen sind ehrenamtlich tätig. Wie sichern sie ihren | |
Lebensunterhalt? | |
Spesen für Fahrten und Verpflegung werden den Reporterinnen bezahlt. Und | |
wenn sie spezielle Berichte bringen, bekommen sie dafür auch jeweils ein | |
geringes Honorar. Aber ansonsten arbeiten wir ehrenamtlich. Manche kommen | |
als Studenten über die Runden, andere sind auch für Agenturen tätig. | |
Die Künstlerin Zehra Doğan, die als ehrenamtliche Reporterin für Şûjin | |
tätig war, ist derzeit wegen Berichten und Bildern, die sie gemalt hat, für | |
zwei Jahre und 9 Monate im Gefängnis. Wie viele Journalistinnen sind | |
inhaftiert? | |
Einer jüngeren Erklärung der Mesopotamien-Journalistinnen-Plattform zufolge | |
sind 30 der 165 [2][in der Türkei und Kurdistan inhaftierten | |
JournalistInnen] Frauen. Das sind die offiziellen Angaben. Sie wurden als | |
Geiseln genommen, weil sie Journalistinnen sind und vor Ort recherchiert | |
haben. | |
23 Aug 2017 | |
## LINKS | |
[1] https://www.gazetesujin.net/en/ | |
[2] http://www.platform24.org/en/media-monitoring/514/journalists-in-state-of-e… | |
## AUTOREN | |
Dilan Karacadag | |
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