# taz.de -- Die Mittlerin | |
> „Ich bin gerne Lehrerin“, sagt Marta Huhnholt mit Überzeugung. Sie | |
> unterrichtet unbegleitete jugendliche Flüchtlinge in Bremen | |
Bild: Marta Huhnholt, Lehrerin | |
von Gabriele Goettle | |
Marta Huhnholt, Lehrerin. Geboren und aufgewachsen in Ostróda (Osterode), | |
Polen. Nach dem Abitur an einem altsprachlichen Gymnasium (1994) studierte | |
sie an der Nikolaus–Kopernikus-Universität zu Toruń (Thorn). Abbruch des | |
Studiums und Aufenthalt in Deutschland (Bremen- Schwachhausen) als Au Pair | |
für ein Jahr, mit der Absicht, danach in Bremen ein Studium aufzunehmen und | |
in Deutschland zu bleiben. Sie lernt Deutsch, es folgt die Anerkennung | |
ihres Abiturs in Deutschland. Sie absolviert die Aufnahmeprüfung an der | |
Universität Bremen (Nachweis der deutschen Sprachkenntnisse), erhält einen | |
Studienplatz. Herbst 1995: Aufnahme des Studiums, Spanisch und Deutsch als | |
Fremdsprache (auf Lehramt). Im zweiten Studienjahr Wechsel zu Romanischer | |
Philologie. Romanistik als Hauptfach, Kunst und Geschichte als Nebenfächer. | |
2001 geht sie als Austauschstudentin für sechs Monate nach Palermo. Neben | |
dem Studium unterrichtete sie als Dozentin Italienisch an der | |
Volkshochschule in Rotenburg/Wümme. 2002 erstes Kind. 2003 Abschluss des | |
Studiums. Arbeitserlaubnis. In Folge des neuen Zuwanderergesetzes 2004 gab | |
es einen Bedarf an Deutschlehrern, Anfang 2005 unterrichtet sie an der | |
Volkshochschule auch Deutsch (Integrationskurs). Gründet mit einer Gruppe | |
von Eltern eine freie Schule in Verden (ist im Vorstand). Sie beschließt, | |
Lehrerin zu werden. 2009 beginnt sie ein Lehramtsstudium und absolviert es | |
zügig. 2013 Geburt des zweiten Kindes, 2014 Kolloquium, Bachelor und | |
Master. Von 2015 an Referendariat in Bremen. Geburt des dritten Kindes im | |
Jahr 2016. Danach übernimmt sie an der Wilhelm Olbers-Schule in Bremen die | |
Neugründung eines Projektes zur zweijährigen Vorbereitung von jungen | |
Flüchtlingen (mit entsprechender Vorbildung) auf die Oberstufe. Marta | |
Huhnholt ist 1975 geboren, ihr Vater war Automechaniker, die Mutter war | |
eine höhere Verwaltungsangestellte beim städtischen Elektrizitätswerk. | |
Huhnholt lebt auf dem Land, sie ist in zweiter Ehe verheiratet und hat drei | |
Kinder. | |
Während eines Berlinbesuches mit ihrer Klasse treffen wir Marta Huhnolt zum | |
Gespräch. Sie erzählt von der „medienpolitischen Reise durch das | |
literarische Berlin“, die sie derzeit mit ihren Schülern macht. Und sie | |
erzählt vom Aufbau und von den Fortschritten ihrer pädagogischen Arbeit mit | |
diesen Schülern – jungen Flüchtlingen – , die sie in an der Bremer | |
Wilhelm-Olbers-Schule unterrichtet | |
„Ich habe mit vier Schülern angefangen und musste ein Curriculum schreiben, | |
das hatten wir ja logischerweise nicht. Und dann kamen nach und nach die | |
übrigen Schüler. Die senatorische Behörde hat den Vorklassen 25 | |
Unterrichtsstunden zugesagt und über die verfügen wir. Und das ist kein | |
päpstliches, sondern ein reelles ‚wir‘. Die Schule gibt zwar keine Lehrer | |
für zusätzliche Stunden frei, erlaubt und befürwortet aber Doppelbesetzung, | |
wenn möglich. Für Deutsch ist es auf jeden Fall notwendig, weil die | |
sprachlichen Voraussetzungen der Schüler doch sehr heterogen sind. Alle | |
Deutschstunden haben wir doppelt besetzt. Hervorragend! Es wird in zwei | |
Gruppen gearbeitet. Aber es gibt ganz viele Schnittstellen und gemeinsame | |
Projekte. Wir sind ein gutes Team. Helfen uns auch gegenseitig, zum | |
Beispiel, wenn die junge Kollegin mal Unterstützung braucht bei Grammatik, | |
denn Grammatik ist mein Spezialgebiet, ich kann sie so verkaufen, als wäre | |
sie das Schönste der Welt. | |
Meine Kollegin beginnt gerade ein Referendariat. Sie hat die schwächere | |
Gruppe. Sie macht das wunderbar, die Schüler vertrauen ihr. Ich habe die | |
stärkere Gruppe, die ich explizit auf die Oberstufe vorbereite. Anfangs hat | |
die senatorische Behörde uns die Schüler zugewiesen, inzwischen kommen die | |
Schüler zu uns, hospitieren – und wir entscheiden, ob wir sie nehmen oder | |
auch nicht. Im Zweifelsfalle nehmen wir sie. Aber eine Garantie hat man | |
natürlich nie. | |
Ich habe schnell gemerkt, dass viele Schüler schüchtern sind, sich isoliert | |
fühlen, und mir wurde klar, wir müssen raus, gemeinsame Aktivitäten | |
entfalten, damit wir lernen, uns als Gruppe zu definieren. Wir haben | |
Ausflugstage organisiert, Beachvolleyball gespielt, wir haben Songtexte für | |
Rap- und HipHop-Stücke geschrieben, es wurde getanzt, es gab öffentliche | |
Auftritte, sodass sie aufatmen konnten und lachen. Sie müssen sich erst mal | |
einigermaßen ‚normal‘ fühlen, sonst können sie nicht lernen. Sie sind ja | |
traumatisiert; manche mehr, manche weniger. Es gab ein Kunstprojekt, ein | |
Container wurde bemalt und mit Graffiti besprüht, die Projekte fielen nur | |
so vom Himmel. Und dann ging es weiter mit ‚Jugend im Parlament‘. | |
Einer unserer Schüler, Ahmad aus Afghanistan, hat sogar die Bremische | |
Rüstungsindustrie bei dem Projekt ‚Jugend im Parlament‘ thematisiert. Schon | |
davor hatte er sich mit dem Thema befasst, mit Leuten darüber gesprochen, | |
er war sehr irritiert. Dann nutzte er das Forum ‚Jugend im Parlament‘, um | |
seine Kritik an der Rüstungsindustrie und der Waffenpolitik Bremens | |
vorzutragen. Unterstützt von Oberstufenschülern hielt Ahmad in deutscher | |
Sprache eine kritische Rede in der Bremischen Bürgerschaft. Das hat mich | |
als seine Lehrerin sehr stolz gemacht. Es gab darüber auch einen Bericht | |
bei Radio Bremen.“ (Seine Rede ist unter dem folgenden Link zu finden: | |
vimeo.com/184650054. Jugend im Parlament, Aktuelle Stunde „Waffenproduktion | |
in Bremen und Waffentransporte über Bremische Häfen“, 27. 9. 2016, ab ca. | |
Min. 5, Anm. G.G.) | |
## Sie muss auch mal den Chef raushängen lassen | |
Auf die Frage, ob es denn keine Autoritätsprobleme gibt und wie die | |
Einstellung der Jungs zu Frauen ist, sagt sie: „Mhm … unterschiedlich, | |
eigentlich begegnet man mir mit Toleranz. Aber für manchen war das anfangs | |
nicht so einfach – wir sprechen jetzt immer nur über den Anfang, später | |
ändert sich das Verhalten. Ich bin ja blond, mache einen naiven Eindruck, | |
da haben manche am Anfang schon so einen herrischen Ton gehabt. Den kannte | |
ich schon von der Volkshochschule, wo ich es mit arabischen und kurdischen | |
Männern zu tun hatte, also ausgewachsenen Männern. Das Verhalten ist | |
ähnlich, sie schauen mich von der Seite an, der Ton ist etwas strenger, | |
auch wenn sie kaum Deutsch können. Meist geht es darum, dass sie etwas | |
ihrer Meinung nach Ehrenrühriges tun sollen. ‚Ja, warum soll denn ich den | |
Boden fegen?‘ oder ‚Wieso soll ich denn das Handy wegpacken?‘ Man kann das | |
ja auf verschiedene Arten sagen. Aber so geht es gar nicht. Da muss ich | |
dann den Chef raushängen lassen. Ich sage zum Beispiel: ‚Pass auf, ich habe | |
hier das Sagen und du packst jetzt das Telefon weg. Sofort!‘ Und das | |
unterstreiche ich durch einen strengen Blickkontakt … den halte ich so was | |
von aus! Und sie kriegen das dann hin.“ Sie lacht. | |
„Irgendwann ist er dann weichgespült und so was von süß und charmant, wie | |
ausgewechselt. Aber es gibt auch politische Konflikte. Wir haben einen | |
Jungen, der kommt aus Albanien und hat eine erstaunliche Weltanschauung … | |
Man kann sie kurz so zusammenfassen: Albanien ist das beste Land überhaupt, | |
Albaner wissen auf allen Gebieten über absolut alles Bescheid. Alles, was | |
nicht albanisch ist, ist schlecht und schlechter. Dieser Junge ist sehr | |
gebildet, mathematisch gut, in Englisch hervorragend, sein Allgemeinwissen | |
ist wirklich gut, aber ansonsten hat er engstirnige Denkweisen. Es ging so | |
weit, dass er ein Mädchen aus Griechenland derartig kränkte, dass sie | |
wirklich fast in Tränen ausbrach. Er sagte immer wieder: ‚Ihr Griechen, ihr | |
pumpt ja immer nur die EU an!‘ Oder er hat seine Mitschüler in Englisch | |
korrigiert, sogar die Englischlehrerin, was ja wirklich nicht geht. | |
Ich habe mich dann entschlossen, als seine Klassenlehrerin mal sehr ernst | |
mit ihm zu reden. Ich habe herausgefunden, dass er einige Jahre in Italien | |
gelebt hatte. Dann habe ich ihn einfach mal in Italienisch auf den Pott | |
gesetzt. Drei ernste Gespräche und wir hatten ihn! Ich habe ihm gesagt, was | |
sein Job hier ist. Sein Job ist nicht, Lehrer zu sein, sondern Schüler, und | |
als solcher hat er zuzuhören, Vokabeln zu lernen, Grammatik, Hausaufgaben | |
zu machen. Inzwischen geht es ganz gut. Aber jetzt haben wir ganz aktuell | |
und noch nicht gelöst, ein anderes Problem. Besser gesagt, eine Situation: | |
Ich spreche jetzt exklusiv von Jungs aus Syrien, manche sind jesidische | |
Kurden. Und dann gibt es Jungs, die sind nicht kurdisch, nicht jesidisch, | |
sondern muslimisch, auch eines der Mädchen. Wir haben sogar ein syrisches | |
Mädchen, das ist christlich. Ja, Wir haben auch Mädchen, tolle Mädchen. | |
Also die Religionszugehörigkeit war bis jetzt überhaupt kein Problem, es | |
störte niemanden, interessierte niemanden. Jeder hatte sein Gepflogenheiten | |
und die wurden von allen akzeptiert. Dann kam ein Junge zu uns im Januar. | |
Er ist jesidisch, sehr schlau, sehr ehrgeizig, sehr sympathisch und klug. | |
Aber aufgrund seiner Erlebnisse in Syrien, in Nordsyrien, also in | |
Kurdistan, ist er leidenschaftlich politisiert. Wenn aber politische | |
Konflikte in die Klasse eindringen, wenn es auf einmal Lager gibt und das | |
dazugehörige Lagerdenken, dann geht das nicht, dann endet so etwas nicht | |
gut. Das weiß ich. Ich kenne das bereits aus der Volkshochschule. Wir sind | |
jetzt dabei, mit ihm zu reden, es genau zu beobachten. Noch ist alles nicht | |
so schlimm, aber es verändert sich bereits die Atmosphäre. Er fühlt sich | |
damit zwar auch nicht wohl, macht aber weiter. Möglicherweise ist er so | |
verunsichert, dass er sich nur durch sein starkes Auftreten etwas sicherer | |
fühlt. Aber das geht natürlich nicht und darf keine Entschuldigung sein. | |
Kein Grund, andere zu beleidigen, indem er zum Beispiel sagt: ‚Rührt diesen | |
Apfelsaft nicht an, das gehört uns, das ist eine kurdische Flasche!‘ Oder | |
dass er das Bilden einer kurdischen Ecke betreibt, das geht einfach nicht. | |
Und wenn das zum siebten oder zehnten Mal passiert, dann ist das kein Spaß | |
mehr. Und das ist passiert. Auch jetzt, während der Klassenfahrt! Wo wir | |
doch eigentlich so eng und intensiv zusammen sind. | |
Da muss ich natürlich einschreiten. Das Traurige aus meiner Sicht ist, wenn | |
man über andere Themen mit ihm spricht, ist er so toll, so souverän und | |
aufmerksam. Er ist hilfsbereit, witzig, freundlich, offen, extrovertiert. | |
Nur wenn es um seine Biografie geht, um seine Politisierung, dann ist er | |
ganz anders. Wir sprechen mit ihm darüber und in kleinen Gruppen, versuchen | |
klar zu machen, dass wir alle keine Schuld haben an seinen Erfahrungen und | |
dass wir aber ebenso wenig solche schwerwiegenden politischen Konflikte in | |
der Klasse lösen können. Schön wäre es! Dann wären sie schon beigelegt. | |
Aber so ist es eben nicht. Wir können diese Konflikte nicht hier in der | |
Klasse austragen. Unsere Sorge ist nun, dass, wenn er in die nächsthöhere | |
Stufe wechselt, sich die Probleme automatisch verhärten werden. An unserer | |
Schule gibt es nämlich viele Schüler aus türkischstämmigen Familien. Wir | |
müssen da unbedingt rechtzeitig gegensteuern. | |
## „Ist jemand von euch mit dem Boot angekommen?“ | |
Zum Glück sind die Schüler sehr offen zu uns, zum großen Teil. Wir wissen | |
viel von ihnen, aber nicht alles über jeden Einzelnen. Vor ein paar Wochen | |
gab es in der Kunsthalle Bremen so ein Projekt zum Thema. Gleich am Eingang | |
gab es ein Fernsehgerät, das als Dauerschleife ein Boot zeigte, das an | |
einem Anker hängt. Und irgendwie ist die Verlängerung aus diesem Bild die | |
authentische Situation. Wir standen davor und schauten es an und die | |
Kunstpädagogin, die uns begleitete, sagte: ‚Ja – wie geht es euch denn | |
damit?‘ Und irgend jemand sagte: ‚Es geht so. Es ist gar nicht so schlimm.�… | |
Sie fragte: ‚Ist vielleicht jemand von euch mit dem Boot angekommen?‘ Und | |
jemand sagte cool: ‚Wir sind doch fast alle mit dem Boot gekommen!‘ Einige | |
sind auch über den Landweg gekommen. Aber das Boot ist wohl nach wie vor | |
das übliche Fluchtmittel. Einer erzählte mir: ‚Frau Huhnholt, ich habe es | |
dreimal versucht, zweimal ist das Boot kaputtgegangen und wir mussten | |
umdrehen. Beim dritten Mal hat es geklappt. Angst hatte ich nicht, ich kann | |
schwimmen. Deshalb haben sie mir ein Baby in den Arm gegeben von einer | |
Familie, die alle nicht schwimmen konnten.‘ Er hat mir das ziemlich | |
unbeschwert erzählt. | |
Das hat mich schockiert, sie sind ja noch relativ jung und bräuchten | |
eigentlich noch die Eltern, die Familie. Ach, es gibt so viele | |
Flüchtlingsschicksale … Wir haben einen Jungen – ein Einzelkind –, der | |
lebte allein mit seiner Mutter in Syrien, die Eltern waren getrennt. Eines | |
Tages sind die beiden nach Ägypten geflüchtet, dort war er in einer | |
internationalen Schule und zuvor in Syrien in einer British School. Die | |
Mutter war schwer an Krebs erkrankt und sie waren sehr eng zusammen, aber | |
sie hat ihm zugeredet, nach Deutschland zu gehen. Er ist allein gekommen, | |
hat wunderbare Umgangsformen, ist sehr selbstständig. Im Juni, da war er | |
vier Monate bei uns, hat er bereits sehr auf seine Mutter gewartet, er | |
sagte, sie käme in 14 Tagen. Das hat er ein Jahr lang erzählt. Unlängst ist | |
die Mutter dann tatsächlich gekommen, und sie will bleiben. Wir haben uns | |
alle sehr gefreut. | |
## Erst Container, dann in Übergangseinrichtungen | |
Er hat einen wunderbaren Vormund in Bremen: eine Frau, sehr engagiert, die | |
alles tut, was man machen kann. Alle unbegleiteten Flüchtlinge haben einen | |
Vormund, entweder einen Amtsvormund oder eine Privatperson. Und dann haben | |
sie noch Betreuer, die sich um das Soziale und die Termine kümmern. Da | |
pflegen wir die Kontakte, denn ein Netzwerk ist wichtig, damit sich die | |
Verantwortung und Mitverantwortung auf viele Schultern verteilt. Die | |
meisten Jugendlichen sind ja noch minderjährig. Sie leben anfangs in | |
Containern, danach gibt es Übergangseinrichtungen, in dieser Clearingstelle | |
sollen sie vom Gesetz her nicht länger als drei Monate bleiben und dann | |
eine kleine Wohnung zugewiesen bekommen. Durch den Wohnungsmangel kann sich | |
das verzögern, aber inzwischen haben fast alle ihre Wohnungen. Mittlerweile | |
sind auch viele Eltern gekommen, viele Familien nachgezogen, sodass einige | |
wieder in ihrer Familie wohnen.“ | |
Auf die Frage, ob es denn nicht auch richtig negative Beispiele gibt, | |
abgestürzte Jugendliche, die kriminell, werden oder drogensüchtig, sagt sie | |
leise: „Doch, doch!“ Ich frage: „Vergewaltiger?“ Sie sagt heftig: „Ne… | |
Vergewaltiger nicht. Aber wir hatten einen ganz fantastischen Jungen aus | |
Westafrika – wir haben ihn noch. Schlau, mehrsprachig, er kann ganz schnell | |
verknüpfen, dazu ist er musikalisch talentiert. Er war zum Schüleraustausch | |
in England und war auf einer Privatschule in Holland. Er stammt aus einer | |
gebildeten Familie, der Vater hatte eine politische Funktion. Der Junge war | |
eine Bereicherung für uns und für die ganze Schule. Aber eines Tages kam er | |
immer seltener zum Unterricht – das ist generell ein Problem – aber bei ihm | |
war es extrem. Er sagte, ich ziehe um, von der Clearingstelle in eine | |
Wohnung, ich muss renovieren, Möbel organisieren. Dann haben wir erfahren, | |
dass sein Vater starb. Wir waren sehr tolerant, aber er kam bis Ende Mai | |
nur sporadisch in die Schule. Er wird uns verlassen, wir können ihm kein | |
Zeugnis ausstellen. Sein Betreuer sagte mir, es geht Richtung Ausbildung. | |
Und inoffiziell erfuhr ich, dass er mit Drogen handeln soll. Wir haben | |
keinen Einfluss auf ihn, leider. Aber vielleicht, er ist sehr intelligent, | |
besinnt er sich und kriegt die Kurve, sodass er eines Tages studieren kann. | |
Er hat absolut die Prädisposition dazu. | |
Das war auf jeden Fall ein negatives Beispiel. Etwas sehr Trauriges haben | |
wir leider auch erlebt. Es betraf einen Schüler, der mit uns zugleich | |
angefangen hat. Er kam aus Russland, aus einer jüdischen Familie, mit ihr | |
gemeinsam kam er nach Deutschland. Er war eher still, aber sehr schlau. | |
Nach drei Monaten waren Osterferien und danach kam er nicht wieder. Die | |
Mama teilte uns mit, er sei im Krankenhaus. In welchem, wussten wir nicht. | |
Wir wollten ihn besuchen, bekamen aber keine Antwort. Irgendwann habe ich | |
zufällig erfahren, er hat Krebs, ganz schlimm, ganz böse. Und ein paar | |
Wochen nach den Sommerferien ist er gestorben. Ich habe es dann den | |
Schülern mitgeteilt und sie waren unglaublich entsetzt, hatten Tränen in | |
den Augen. Das hätte ich nie gedacht, weil sie den Jungen ja nur drei | |
Monate lang kannten. Die meisten sind dann mit zur Beerdigung gegangen. | |
Solche Ereignisse wirken sich schon auf die Gruppe aus, auch auf den | |
einzelnen Schüler. Sie sind immerhin zwei Jahre zusammen und müssen lernen. | |
Das fällt leichter, wenn eine entspannte Atmosphäre herrscht. Und | |
zuallererst geht es gezielt um den Spracherwerb. Dafür gib es den | |
europäischen Referenzrahmen, den gibt es seit 1991. Kennt ihr den? Er ist | |
so strukturiert, dass es sechs Stufen gibt, und das Ziel dessen ist, das | |
Ganze so etwas EU-mäßig zu vereinheitlichen. Also rein theoretisch, wenn | |
zum Beispiel ein Litauer Spanisch lernt und A2 hat, und wenn ein Norweger | |
Spanisch lernt und A2 hat, dann müssen beide etwa auf dem gleichen Niveau | |
sein, sodass man mit Aussagen, mit Zertifikationen auch etwas anfangen | |
kann. | |
## Der bestgekleidete Junge in der Klasse | |
Und damit arbeiten wir. Die Sprachkenntnisse teilen sich auf nach den | |
Stufen A1, die einfachste Stufe, dann A2, dann B1 und B2, das ist dann | |
schon eine selbstständige Kommunikation. C1 ist fast schon muttersprachlich | |
und zum Beispiel auch Voraussetzung für die Universität. Also sie haben ein | |
bestimmtes Pensum zu erfüllen. Mancher lernt schneller, ein anderer braucht | |
vielleicht etwas länger, kommt aber doch ans Ziel. Beispielsweise der, der | |
an der British School und International School war, der hat eine | |
unglaublich tolle Selbstlernkompetenz und kann sich selbst gut einschätzen. | |
Er lernt selbstständig und souverän. Wir haben auch ein Mädchen aus Syrien, | |
sie ist Christin. Auch sie ist sehr selbstständig und sucht selbst nach | |
Lösungen. Die europäischen Mädchen – ich hab eine Schülerin aus Albanien, | |
eine aus dem Kosovo, eine aus Bulgarien – sind relativ selbstständig. Es | |
muss eben das Minimum erlernt werden. Das Wie ist dabei gar nicht so | |
wichtig. Man kann ja auf verschiedene Weise lernen. Aber nur mit der | |
Reflexbildung kommt man bei Sprachen nicht wirklich weiter. Das ist zu | |
wenig. Man braucht eine Methode. Es gibt Menschen – sicher kennt ihr solche | |
auch –, die sind 20 bis 30 Jahre oder länger in Deutschland und können | |
immer noch kein Deutsch, weil sie nie analytisch über die Sprache | |
nachgedacht haben, sich niemals mit der Syntax der deutschen Sprache | |
auseinandergesetzt haben. | |
Sicher, es spielen auch die Familienverhältnisse mit eine Rolle, das gebe | |
ich zu. Wir haben einen Jungen, der erzählte, seine Eltern und | |
Familienmitglieder haben alle Jura studiert, er hat natürlich gute | |
Voraussetzungen. Ein anderer Junge kommt aus Afghanistan, seine Mama ist | |
Näherin und der Vater Arbeiter, er hat es schwerer. Er ist aber sehr | |
ehrgeizig, vielleicht zu ehrgeizig. Er setzt sich unter Druck, ist nicht | |
frei. Seine Mama näht fleißig, er ist der bestgekleidete Junge in der | |
Klasse, aber er fühlt sich erst wirklich gut, wenn er absolut vorbereitet | |
ist und alles sitzt, er sagte mal: Frau Huhnholt, ich muss doppelt lernen.“ | |
Wir werden unterbrochen durch ein plötzliches Unwetter das sich mit Blitz, | |
Donner und heftigem Regen entlädt. | |
Frau Huhnholt fährt mit lauterer Stimme fort: „Ich habe eine Kollegin, die | |
ist türkische Kurdin, und sie erzählte mir zu meinem Entsetzen, dass in | |
einigen arabischen Ländern so eine Art Verherrlichung des Hitlerfaschismus | |
herrscht. Davon ist bei meinen Schülern zwar nicht zu spüren, aber ich | |
hatte das große Bedürfnis, mit ihnen genauer darüber zu sprechen. Und so | |
haben wir das Thema in Politik behandelt, haben so eine Kurzversion von | |
Sophie Scholl gelesen, auch Bilder aus Auschwitz angeschaut. Ich dachte, | |
das sollen sie sehen, bevor sie anfangen, das Ganze zu bagatellisieren. Es | |
hat sich gezeigt, dass sie sich damit auseinandersetzen. Auch in der | |
Kunsthalle kamen sie darauf zu sprechen – wir machten einen Crash-Kurs für | |
moderne Kunstgeschichte, weil wir keinen Kunstunterricht haben. Vor einem | |
Bild von Max Beckmann – ‚Andalusischer Tanz‘ – haben sich lebhafte | |
Gespräche über die Figuren und die Nazizeit entsponnen. | |
## Diskussion überFake News in der taz | |
Im Rahmen unserer medienpolitischen Klassenreise durch das literarische | |
Berlin, auf der wir uns ja derzeit befinden, haben wir mit einem kundigen | |
Führer literarische Spaziergänge gemacht, uns mit Autoren beschäftigt, | |
deren Bücher in der Nazizeit verbrannt wurden, beispielsweise mit Erich | |
Kästner. Wir waren im Bundestag und heute waren wir übrigens bei der taz. | |
Wir wollten unter anderem wissen, wie solche außergewöhnlichen Zeitungen | |
arbeiten. Es war sehr nett. Thematisiert wurde auch der Umgang mit Fake | |
News und Fake Pictures. Wir wollten kritisch hinterfragen, was eine | |
Zeitung wie die taz dagegen macht – oder auch nicht –, und wir haben | |
einiges erfahren. Die Ergebnisse unserer Reise und unserer Recherchen | |
halten wir in Reisetagebüchern fest, wir machen einen Blog, schreiben | |
Berichte, und drehen Kurzvideos. Man kann sich das auch im Internet ansehen | |
auf der Seite vom Verein Bremer Leselust“ | |
(www.bremerleselust.de/bericht-aus-berlin-letzter-tag/ – Dort findet man | |
alle Beiträge zur Reise. Anm. G.G.). | |
„Ich muss sagen, ich bin gerne Lehrerin“, sagt Marta Huhnholt mit | |
Überzeugung. „Es macht mir Freude, wenn ich sehe, wie sich meine Schüler | |
entwickeln und wie sehr das ihre Zukunft beeinflussen wird. Ich konnte das | |
bei mir selbst sehen. Ursprünglich wollte ich ja mal Stewardess werden, | |
aber mein Vater hat darauf bestanden, dass ich erst einmal studiere.“ Sie | |
lacht und sagt: „Es hat aufgehört zu regnen, jetzt gehe ich schnell, bevor | |
es wieder anfängt!“ | |
28 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Goettle | |
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