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# taz.de -- Die Mittlerin
> „Ich bin gerne Lehrerin“, sagt Marta Huhnholt mit Überzeugung. Sie
> unterrichtet unbegleitete jugendliche Flüchtlinge in Bremen
Bild: Marta Huhnholt, Lehrerin
von Gabriele Goettle
Marta Huhnholt, Lehrerin. Geboren und aufgewachsen in Ostróda (Osterode),
Polen. Nach dem Abitur an einem altsprachlichen Gymnasium (1994) studierte
sie an der Nikolaus–Kopernikus-Universität zu Toruń (Thorn). Abbruch des
Studiums und Aufenthalt in Deutschland (Bremen- Schwachhausen) als Au Pair
für ein Jahr, mit der Absicht, danach in Bremen ein Studium aufzunehmen und
in Deutschland zu bleiben. Sie lernt Deutsch, es folgt die Anerkennung
ihres Abiturs in Deutschland. Sie absolviert die Aufnahmeprüfung an der
Universität Bremen (Nachweis der deutschen Sprachkenntnisse), erhält einen
Studienplatz. Herbst 1995: Aufnahme des Studiums, Spanisch und Deutsch als
Fremdsprache (auf Lehramt). Im zweiten Studienjahr Wechsel zu Romanischer
Philologie. Romanistik als Hauptfach, Kunst und Geschichte als Nebenfächer.
2001 geht sie als Austauschstudentin für sechs Monate nach Palermo. Neben
dem Studium unterrichtete sie als Dozentin Italienisch an der
Volkshochschule in Rotenburg/Wümme. 2002 erstes Kind. 2003 Abschluss des
Studiums. Arbeitserlaubnis. In Folge des neuen Zuwanderergesetzes 2004 gab
es einen Bedarf an Deutschlehrern, Anfang 2005 unterrichtet sie an der
Volkshochschule auch Deutsch (Integrationskurs). Gründet mit einer Gruppe
von Eltern eine freie Schule in Verden (ist im Vorstand). Sie beschließt,
Lehrerin zu werden. 2009 beginnt sie ein Lehramtsstudium und absolviert es
zügig. 2013 Geburt des zweiten Kindes, 2014 Kolloquium, Bachelor und
Master. Von 2015 an Referendariat in Bremen. Geburt des dritten Kindes im
Jahr 2016. Danach übernimmt sie an der Wilhelm Olbers-Schule in Bremen die
Neugründung eines Projektes zur zweijährigen Vorbereitung von jungen
Flüchtlingen (mit entsprechender Vorbildung) auf die Oberstufe. Marta
Huhnholt ist 1975 geboren, ihr Vater war Automechaniker, die Mutter war
eine höhere Verwaltungsangestellte beim städtischen Elektrizitätswerk.
Huhnholt lebt auf dem Land, sie ist in zweiter Ehe verheiratet und hat drei
Kinder.
Während eines Berlinbesuches mit ihrer Klasse treffen wir Marta Huhnolt zum
Gespräch. Sie erzählt von der „medienpolitischen Reise durch das
literarische Berlin“, die sie derzeit mit ihren Schülern macht. Und sie
erzählt vom Aufbau und von den Fortschritten ihrer pädagogischen Arbeit mit
diesen Schülern – jungen Flüchtlingen – , die sie in an der Bremer
Wilhelm-Olbers-Schule unterrichtet
„Ich habe mit vier Schülern angefangen und musste ein Curriculum schreiben,
das hatten wir ja logischerweise nicht. Und dann kamen nach und nach die
übrigen Schüler. Die senatorische Behörde hat den Vorklassen 25
Unterrichtsstunden zugesagt und über die verfügen wir. Und das ist kein
päpstliches, sondern ein reelles ‚wir‘. Die Schule gibt zwar keine Lehrer
für zusätzliche Stunden frei, erlaubt und befürwortet aber Doppelbesetzung,
wenn möglich. Für Deutsch ist es auf jeden Fall notwendig, weil die
sprachlichen Voraussetzungen der Schüler doch sehr heterogen sind. Alle
Deutschstunden haben wir doppelt besetzt. Hervorragend! Es wird in zwei
Gruppen gearbeitet. Aber es gibt ganz viele Schnittstellen und gemeinsame
Projekte. Wir sind ein gutes Team. Helfen uns auch gegenseitig, zum
Beispiel, wenn die junge Kollegin mal Unterstützung braucht bei Grammatik,
denn Grammatik ist mein Spezialgebiet, ich kann sie so verkaufen, als wäre
sie das Schönste der Welt.
Meine Kollegin beginnt gerade ein Referendariat. Sie hat die schwächere
Gruppe. Sie macht das wunderbar, die Schüler vertrauen ihr. Ich habe die
stärkere Gruppe, die ich explizit auf die Oberstufe vorbereite. Anfangs hat
die senatorische Behörde uns die Schüler zugewiesen, inzwischen kommen die
Schüler zu uns, hospitieren – und wir entscheiden, ob wir sie nehmen oder
auch nicht. Im Zweifelsfalle nehmen wir sie. Aber eine Garantie hat man
natürlich nie.
Ich habe schnell gemerkt, dass viele Schüler schüchtern sind, sich isoliert
fühlen, und mir wurde klar, wir müssen raus, gemeinsame Aktivitäten
entfalten, damit wir lernen, uns als Gruppe zu definieren. Wir haben
Ausflugstage organisiert, Beachvolleyball gespielt, wir haben Songtexte für
Rap- und HipHop-Stücke geschrieben, es wurde getanzt, es gab öffentliche
Auftritte, sodass sie aufatmen konnten und lachen. Sie müssen sich erst mal
einigermaßen ‚normal‘ fühlen, sonst können sie nicht lernen. Sie sind ja
traumatisiert; manche mehr, manche weniger. Es gab ein Kunstprojekt, ein
Container wurde bemalt und mit Graffiti besprüht, die Projekte fielen nur
so vom Himmel. Und dann ging es weiter mit ‚Jugend im Parlament‘.
Einer unserer Schüler, Ahmad aus Afghanistan, hat sogar die Bremische
Rüstungsindustrie bei dem Projekt ‚Jugend im Parlament‘ thematisiert. Schon
davor hatte er sich mit dem Thema befasst, mit Leuten darüber gesprochen,
er war sehr irritiert. Dann nutzte er das Forum ‚Jugend im Parlament‘, um
seine Kritik an der Rüstungsindustrie und der Waffenpolitik Bremens
vorzutragen. Unterstützt von Oberstufenschülern hielt Ahmad in deutscher
Sprache eine kritische Rede in der Bremischen Bürgerschaft. Das hat mich
als seine Lehrerin sehr stolz gemacht. Es gab darüber auch einen Bericht
bei Radio Bremen.“ (Seine Rede ist unter dem folgenden Link zu finden:
vimeo.com/184650054. Jugend im Parlament, Aktuelle Stunde „Waffenproduktion
in Bremen und Waffentransporte über Bremische Häfen“, 27. 9. 2016, ab ca.
Min. 5, Anm. G.G.)
## Sie muss auch mal den Chef raushängen lassen
Auf die Frage, ob es denn keine Autoritätsprobleme gibt und wie die
Einstellung der Jungs zu Frauen ist, sagt sie: „Mhm … unterschiedlich,
eigentlich begegnet man mir mit Toleranz. Aber für manchen war das anfangs
nicht so einfach – wir sprechen jetzt immer nur über den Anfang, später
ändert sich das Verhalten. Ich bin ja blond, mache einen naiven Eindruck,
da haben manche am Anfang schon so einen herrischen Ton gehabt. Den kannte
ich schon von der Volkshochschule, wo ich es mit arabischen und kurdischen
Männern zu tun hatte, also ausgewachsenen Männern. Das Verhalten ist
ähnlich, sie schauen mich von der Seite an, der Ton ist etwas strenger,
auch wenn sie kaum Deutsch können. Meist geht es darum, dass sie etwas
ihrer Meinung nach Ehrenrühriges tun sollen. ‚Ja, warum soll denn ich den
Boden fegen?‘ oder ‚Wieso soll ich denn das Handy wegpacken?‘ Man kann das
ja auf verschiedene Arten sagen. Aber so geht es gar nicht. Da muss ich
dann den Chef raushängen lassen. Ich sage zum Beispiel: ‚Pass auf, ich habe
hier das Sagen und du packst jetzt das Telefon weg. Sofort!‘ Und das
unterstreiche ich durch einen strengen Blickkontakt … den halte ich so was
von aus! Und sie kriegen das dann hin.“ Sie lacht.
„Irgendwann ist er dann weichgespült und so was von süß und charmant, wie
ausgewechselt. Aber es gibt auch politische Konflikte. Wir haben einen
Jungen, der kommt aus Albanien und hat eine erstaunliche Weltanschauung …
Man kann sie kurz so zusammenfassen: Albanien ist das beste Land überhaupt,
Albaner wissen auf allen Gebieten über absolut alles Bescheid. Alles, was
nicht albanisch ist, ist schlecht und schlechter. Dieser Junge ist sehr
gebildet, mathematisch gut, in Englisch hervorragend, sein Allgemeinwissen
ist wirklich gut, aber ansonsten hat er engstirnige Denkweisen. Es ging so
weit, dass er ein Mädchen aus Griechenland derartig kränkte, dass sie
wirklich fast in Tränen ausbrach. Er sagte immer wieder: ‚Ihr Griechen, ihr
pumpt ja immer nur die EU an!‘ Oder er hat seine Mitschüler in Englisch
korrigiert, sogar die Englischlehrerin, was ja wirklich nicht geht.
Ich habe mich dann entschlossen, als seine Klassenlehrerin mal sehr ernst
mit ihm zu reden. Ich habe herausgefunden, dass er einige Jahre in Italien
gelebt hatte. Dann habe ich ihn einfach mal in Italienisch auf den Pott
gesetzt. Drei ernste Gespräche und wir hatten ihn! Ich habe ihm gesagt, was
sein Job hier ist. Sein Job ist nicht, Lehrer zu sein, sondern Schüler, und
als solcher hat er zuzuhören, Vokabeln zu lernen, Grammatik, Hausaufgaben
zu machen. Inzwischen geht es ganz gut. Aber jetzt haben wir ganz aktuell
und noch nicht gelöst, ein anderes Problem. Besser gesagt, eine Situation:
Ich spreche jetzt exklusiv von Jungs aus Syrien, manche sind jesidische
Kurden. Und dann gibt es Jungs, die sind nicht kurdisch, nicht jesidisch,
sondern muslimisch, auch eines der Mädchen. Wir haben sogar ein syrisches
Mädchen, das ist christlich. Ja, Wir haben auch Mädchen, tolle Mädchen.
Also die Religionszugehörigkeit war bis jetzt überhaupt kein Problem, es
störte niemanden, interessierte niemanden. Jeder hatte sein Gepflogenheiten
und die wurden von allen akzeptiert. Dann kam ein Junge zu uns im Januar.
Er ist jesidisch, sehr schlau, sehr ehrgeizig, sehr sympathisch und klug.
Aber aufgrund seiner Erlebnisse in Syrien, in Nordsyrien, also in
Kurdistan, ist er leidenschaftlich politisiert. Wenn aber politische
Konflikte in die Klasse eindringen, wenn es auf einmal Lager gibt und das
dazugehörige Lagerdenken, dann geht das nicht, dann endet so etwas nicht
gut. Das weiß ich. Ich kenne das bereits aus der Volkshochschule. Wir sind
jetzt dabei, mit ihm zu reden, es genau zu beobachten. Noch ist alles nicht
so schlimm, aber es verändert sich bereits die Atmosphäre. Er fühlt sich
damit zwar auch nicht wohl, macht aber weiter. Möglicherweise ist er so
verunsichert, dass er sich nur durch sein starkes Auftreten etwas sicherer
fühlt. Aber das geht natürlich nicht und darf keine Entschuldigung sein.
Kein Grund, andere zu beleidigen, indem er zum Beispiel sagt: ‚Rührt diesen
Apfelsaft nicht an, das gehört uns, das ist eine kurdische Flasche!‘ Oder
dass er das Bilden einer kurdischen Ecke betreibt, das geht einfach nicht.
Und wenn das zum siebten oder zehnten Mal passiert, dann ist das kein Spaß
mehr. Und das ist passiert. Auch jetzt, während der Klassenfahrt! Wo wir
doch eigentlich so eng und intensiv zusammen sind.
Da muss ich natürlich einschreiten. Das Traurige aus meiner Sicht ist, wenn
man über andere Themen mit ihm spricht, ist er so toll, so souverän und
aufmerksam. Er ist hilfsbereit, witzig, freundlich, offen, extrovertiert.
Nur wenn es um seine Biografie geht, um seine Politisierung, dann ist er
ganz anders. Wir sprechen mit ihm darüber und in kleinen Gruppen, versuchen
klar zu machen, dass wir alle keine Schuld haben an seinen Erfahrungen und
dass wir aber ebenso wenig solche schwerwiegenden politischen Konflikte in
der Klasse lösen können. Schön wäre es! Dann wären sie schon beigelegt.
Aber so ist es eben nicht. Wir können diese Konflikte nicht hier in der
Klasse austragen. Unsere Sorge ist nun, dass, wenn er in die nächsthöhere
Stufe wechselt, sich die Probleme automatisch verhärten werden. An unserer
Schule gibt es nämlich viele Schüler aus türkischstämmigen Familien. Wir
müssen da unbedingt rechtzeitig gegensteuern.
## „Ist jemand von euch mit dem Boot angekommen?“
Zum Glück sind die Schüler sehr offen zu uns, zum großen Teil. Wir wissen
viel von ihnen, aber nicht alles über jeden Einzelnen. Vor ein paar Wochen
gab es in der Kunsthalle Bremen so ein Projekt zum Thema. Gleich am Eingang
gab es ein Fernsehgerät, das als Dauerschleife ein Boot zeigte, das an
einem Anker hängt. Und irgendwie ist die Verlängerung aus diesem Bild die
authentische Situation. Wir standen davor und schauten es an und die
Kunstpädagogin, die uns begleitete, sagte: ‚Ja – wie geht es euch denn
damit?‘ Und irgend jemand sagte: ‚Es geht so. Es ist gar nicht so schlimm.�…
Sie fragte: ‚Ist vielleicht jemand von euch mit dem Boot angekommen?‘ Und
jemand sagte cool: ‚Wir sind doch fast alle mit dem Boot gekommen!‘ Einige
sind auch über den Landweg gekommen. Aber das Boot ist wohl nach wie vor
das übliche Fluchtmittel. Einer erzählte mir: ‚Frau Huhnholt, ich habe es
dreimal versucht, zweimal ist das Boot kaputtgegangen und wir mussten
umdrehen. Beim dritten Mal hat es geklappt. Angst hatte ich nicht, ich kann
schwimmen. Deshalb haben sie mir ein Baby in den Arm gegeben von einer
Familie, die alle nicht schwimmen konnten.‘ Er hat mir das ziemlich
unbeschwert erzählt.
Das hat mich schockiert, sie sind ja noch relativ jung und bräuchten
eigentlich noch die Eltern, die Familie. Ach, es gibt so viele
Flüchtlingsschicksale … Wir haben einen Jungen – ein Einzelkind –, der
lebte allein mit seiner Mutter in Syrien, die Eltern waren getrennt. Eines
Tages sind die beiden nach Ägypten geflüchtet, dort war er in einer
internationalen Schule und zuvor in Syrien in einer British School. Die
Mutter war schwer an Krebs erkrankt und sie waren sehr eng zusammen, aber
sie hat ihm zugeredet, nach Deutschland zu gehen. Er ist allein gekommen,
hat wunderbare Umgangsformen, ist sehr selbstständig. Im Juni, da war er
vier Monate bei uns, hat er bereits sehr auf seine Mutter gewartet, er
sagte, sie käme in 14 Tagen. Das hat er ein Jahr lang erzählt. Unlängst ist
die Mutter dann tatsächlich gekommen, und sie will bleiben. Wir haben uns
alle sehr gefreut.
## Erst Container, dann in Übergangseinrichtungen
Er hat einen wunderbaren Vormund in Bremen: eine Frau, sehr engagiert, die
alles tut, was man machen kann. Alle unbegleiteten Flüchtlinge haben einen
Vormund, entweder einen Amtsvormund oder eine Privatperson. Und dann haben
sie noch Betreuer, die sich um das Soziale und die Termine kümmern. Da
pflegen wir die Kontakte, denn ein Netzwerk ist wichtig, damit sich die
Verantwortung und Mitverantwortung auf viele Schultern verteilt. Die
meisten Jugendlichen sind ja noch minderjährig. Sie leben anfangs in
Containern, danach gibt es Übergangseinrichtungen, in dieser Clearingstelle
sollen sie vom Gesetz her nicht länger als drei Monate bleiben und dann
eine kleine Wohnung zugewiesen bekommen. Durch den Wohnungsmangel kann sich
das verzögern, aber inzwischen haben fast alle ihre Wohnungen. Mittlerweile
sind auch viele Eltern gekommen, viele Familien nachgezogen, sodass einige
wieder in ihrer Familie wohnen.“
Auf die Frage, ob es denn nicht auch richtig negative Beispiele gibt,
abgestürzte Jugendliche, die kriminell, werden oder drogensüchtig, sagt sie
leise: „Doch, doch!“ Ich frage: „Vergewaltiger?“ Sie sagt heftig: „Ne…
Vergewaltiger nicht. Aber wir hatten einen ganz fantastischen Jungen aus
Westafrika – wir haben ihn noch. Schlau, mehrsprachig, er kann ganz schnell
verknüpfen, dazu ist er musikalisch talentiert. Er war zum Schüleraustausch
in England und war auf einer Privatschule in Holland. Er stammt aus einer
gebildeten Familie, der Vater hatte eine politische Funktion. Der Junge war
eine Bereicherung für uns und für die ganze Schule. Aber eines Tages kam er
immer seltener zum Unterricht – das ist generell ein Problem – aber bei ihm
war es extrem. Er sagte, ich ziehe um, von der Clearingstelle in eine
Wohnung, ich muss renovieren, Möbel organisieren. Dann haben wir erfahren,
dass sein Vater starb. Wir waren sehr tolerant, aber er kam bis Ende Mai
nur sporadisch in die Schule. Er wird uns verlassen, wir können ihm kein
Zeugnis ausstellen. Sein Betreuer sagte mir, es geht Richtung Ausbildung.
Und inoffiziell erfuhr ich, dass er mit Drogen handeln soll. Wir haben
keinen Einfluss auf ihn, leider. Aber vielleicht, er ist sehr intelligent,
besinnt er sich und kriegt die Kurve, sodass er eines Tages studieren kann.
Er hat absolut die Prädisposition dazu.
Das war auf jeden Fall ein negatives Beispiel. Etwas sehr Trauriges haben
wir leider auch erlebt. Es betraf einen Schüler, der mit uns zugleich
angefangen hat. Er kam aus Russland, aus einer jüdischen Familie, mit ihr
gemeinsam kam er nach Deutschland. Er war eher still, aber sehr schlau.
Nach drei Monaten waren Osterferien und danach kam er nicht wieder. Die
Mama teilte uns mit, er sei im Krankenhaus. In welchem, wussten wir nicht.
Wir wollten ihn besuchen, bekamen aber keine Antwort. Irgendwann habe ich
zufällig erfahren, er hat Krebs, ganz schlimm, ganz böse. Und ein paar
Wochen nach den Sommerferien ist er gestorben. Ich habe es dann den
Schülern mitgeteilt und sie waren unglaublich entsetzt, hatten Tränen in
den Augen. Das hätte ich nie gedacht, weil sie den Jungen ja nur drei
Monate lang kannten. Die meisten sind dann mit zur Beerdigung gegangen.
Solche Ereignisse wirken sich schon auf die Gruppe aus, auch auf den
einzelnen Schüler. Sie sind immerhin zwei Jahre zusammen und müssen lernen.
Das fällt leichter, wenn eine entspannte Atmosphäre herrscht. Und
zuallererst geht es gezielt um den Spracherwerb. Dafür gib es den
europäischen Referenzrahmen, den gibt es seit 1991. Kennt ihr den? Er ist
so strukturiert, dass es sechs Stufen gibt, und das Ziel dessen ist, das
Ganze so etwas EU-mäßig zu vereinheitlichen. Also rein theoretisch, wenn
zum Beispiel ein Litauer Spanisch lernt und A2 hat, und wenn ein Norweger
Spanisch lernt und A2 hat, dann müssen beide etwa auf dem gleichen Niveau
sein, sodass man mit Aussagen, mit Zertifikationen auch etwas anfangen
kann.
## Der bestgekleidete Junge in der Klasse
Und damit arbeiten wir. Die Sprachkenntnisse teilen sich auf nach den
Stufen A1, die einfachste Stufe, dann A2, dann B1 und B2, das ist dann
schon eine selbstständige Kommunikation. C1 ist fast schon muttersprachlich
und zum Beispiel auch Voraussetzung für die Universität. Also sie haben ein
bestimmtes Pensum zu erfüllen. Mancher lernt schneller, ein anderer braucht
vielleicht etwas länger, kommt aber doch ans Ziel. Beispielsweise der, der
an der British School und International School war, der hat eine
unglaublich tolle Selbstlernkompetenz und kann sich selbst gut einschätzen.
Er lernt selbstständig und souverän. Wir haben auch ein Mädchen aus Syrien,
sie ist Christin. Auch sie ist sehr selbstständig und sucht selbst nach
Lösungen. Die europäischen Mädchen – ich hab eine Schülerin aus Albanien,
eine aus dem Kosovo, eine aus Bulgarien – sind relativ selbstständig. Es
muss eben das Minimum erlernt werden. Das Wie ist dabei gar nicht so
wichtig. Man kann ja auf verschiedene Weise lernen. Aber nur mit der
Reflexbildung kommt man bei Sprachen nicht wirklich weiter. Das ist zu
wenig. Man braucht eine Methode. Es gibt Menschen – sicher kennt ihr solche
auch –, die sind 20 bis 30 Jahre oder länger in Deutschland und können
immer noch kein Deutsch, weil sie nie analytisch über die Sprache
nachgedacht haben, sich niemals mit der Syntax der deutschen Sprache
auseinandergesetzt haben.
Sicher, es spielen auch die Familienverhältnisse mit eine Rolle, das gebe
ich zu. Wir haben einen Jungen, der erzählte, seine Eltern und
Familienmitglieder haben alle Jura studiert, er hat natürlich gute
Voraussetzungen. Ein anderer Junge kommt aus Afghanistan, seine Mama ist
Näherin und der Vater Arbeiter, er hat es schwerer. Er ist aber sehr
ehrgeizig, vielleicht zu ehrgeizig. Er setzt sich unter Druck, ist nicht
frei. Seine Mama näht fleißig, er ist der bestgekleidete Junge in der
Klasse, aber er fühlt sich erst wirklich gut, wenn er absolut vorbereitet
ist und alles sitzt, er sagte mal: Frau Huhnholt, ich muss doppelt lernen.“
Wir werden unterbrochen durch ein plötzliches Unwetter das sich mit Blitz,
Donner und heftigem Regen entlädt.
Frau Huhnholt fährt mit lauterer Stimme fort: „Ich habe eine Kollegin, die
ist türkische Kurdin, und sie erzählte mir zu meinem Entsetzen, dass in
einigen arabischen Ländern so eine Art Verherrlichung des Hitlerfaschismus
herrscht. Davon ist bei meinen Schülern zwar nicht zu spüren, aber ich
hatte das große Bedürfnis, mit ihnen genauer darüber zu sprechen. Und so
haben wir das Thema in Politik behandelt, haben so eine Kurzversion von
Sophie Scholl gelesen, auch Bilder aus Auschwitz angeschaut. Ich dachte,
das sollen sie sehen, bevor sie anfangen, das Ganze zu bagatellisieren. Es
hat sich gezeigt, dass sie sich damit auseinandersetzen. Auch in der
Kunsthalle kamen sie darauf zu sprechen – wir machten einen Crash-Kurs für
moderne Kunstgeschichte, weil wir keinen Kunstunterricht haben. Vor einem
Bild von Max Beckmann – ‚Andalusischer Tanz‘ – haben sich lebhafte
Gespräche über die Figuren und die Nazizeit entsponnen.
## Diskussion überFake News in der taz
Im Rahmen unserer medienpolitischen Klassenreise durch das literarische
Berlin, auf der wir uns ja derzeit befinden, haben wir mit einem kundigen
Führer literarische Spaziergänge gemacht, uns mit Autoren beschäftigt,
deren Bücher in der Nazizeit verbrannt wurden, beispielsweise mit Erich
Kästner. Wir waren im Bundestag und heute waren wir übrigens bei der taz.
Wir wollten unter anderem wissen, wie solche außergewöhnlichen Zeitungen
arbeiten. Es war sehr nett. Thematisiert wurde auch der Umgang mit Fake
News und Fake Pictures. Wir wollten kritisch hinterfragen, was eine
Zeitung wie die taz dagegen macht – oder auch nicht –, und wir haben
einiges erfahren. Die Ergebnisse unserer Reise und unserer Recherchen
halten wir in Reisetagebüchern fest, wir machen einen Blog, schreiben
Berichte, und drehen Kurzvideos. Man kann sich das auch im Internet ansehen
auf der Seite vom Verein Bremer Leselust“
(www.bremerleselust.de/bericht-aus-berlin-letzter-tag/ – Dort findet man
alle Beiträge zur Reise. Anm. G.G.).
„Ich muss sagen, ich bin gerne Lehrerin“, sagt Marta Huhnholt mit
Überzeugung. „Es macht mir Freude, wenn ich sehe, wie sich meine Schüler
entwickeln und wie sehr das ihre Zukunft beeinflussen wird. Ich konnte das
bei mir selbst sehen. Ursprünglich wollte ich ja mal Stewardess werden,
aber mein Vater hat darauf bestanden, dass ich erst einmal studiere.“ Sie
lacht und sagt: „Es hat aufgehört zu regnen, jetzt gehe ich schnell, bevor
es wieder anfängt!“
28 Aug 2017
## AUTOREN
Gabriele Goettle
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