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# taz.de -- Debattenort Berliner S-Bahn-Ring: Redeabteil Nummer X
> Die Initiative „Ringrat“ hat keine Lust auf Schweigen. Einmal im Monat
> erklärt sie einen Waggon der Berliner Ringbahn zum politischen Forum.
Bild: Warum an der Uni bleiben, wenn es die S-Bahn gibt?
Berlin, früher Mittwochabend: Es ist warm in der S42, vielen Fahrgästen
sieht man an, dass sie gerade von der Arbeit kommen und im Kopf schon zu
Hause sind. Wer die Augen nicht zu hat, starrt auf sein Smartphone, hat
Kopfhörer auf oder liest. Jede_r, so scheint es, versucht, so zu tun, als
ob alle anderen nicht da wären. „Da gehen wir rein“, sagt Jup Löwe und
zeigt vom Bahnsteig aus auf das Fahrradabteil der Ringbahn, die gerade in
den Bahnhof Westkreuz in Berlin-Charlottenburg einfährt.
Zusammen mit sechs Mitstreiter_innen trägt Löwe einen Klapptisch, eine
Schiefertafel und eine kniehohe Thermoskanne in die Bahn und beginnt, an
den Haltestangen Pappschilder mit Aufschriften wie „Redeabteil“ oder „All…
ist politisch“ aufzuhängen. Die Studierenden haben keine Lust, sich
gegenseitig anzuschweigen: In Zeiten, in denen der politische Diskurs nur
noch in Filterblasen vor sich hin blubbert oder man sich im Internet
anpöbelt, wollen sie mit realen Menschen ins Gespräch kommen – beim
„Ringrat“. Auf der Tafel steht das Thema des heutigen Abends: „G20 – wo
warst du? :)“
Seit Beginn des Jahres findet der Ringrat statt: eine kleiner Gruppe
Studierender, die einmal im Monat in die Ringbahn steigt, zweimal um Berlin
herumfährt und versucht, mit den Fahrgästen in Dialog zu treten, etwa zu
Themen wie „Erziehung“, „Arbeit“ oder auch der Debatte rund um Andrej H…
den Berliner Gentrifizierungskritiker, der kurzzeitig Staatssekretär in der
Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen der rot-rot-grünen
Landesregierung war, bevor er über seine Stasivergangenheit stolperte und
zurücktrat. „Politisches S-Bahn-Fahren“ nennen die Aktivisten ihre
Aktionsform, die 2016 im Rahmen des Seminars „Alle, macht die Räte!“ an der
Universität Potsdam entstanden ist.
## Dazugehören
„Die politische Diskussion ist komplett vom Alltag abgekoppelt – aber hier
kann das stattfinden“, sagt Tom Müller, der Medieninformatik studiert. „Wir
wollen ein Forum schaffen. Die Menschen sollen wissen, dass sie
dazugehören.“ Dies sei eine sehr viel bessere Methode des Austauschs als
etwa eine Demonstration, sagt Löwe: „Durch Demos kommt keine Diskussion
zustande. Bei einer Ringrat-Fahrt sprechen wir vielleicht mit 30 bis 50
Leuten – damit erreicht man natürlich weniger Menschen als mit einer
Kundgebung oder Flyern, aber es ist intensiver.“
Klingt ein wenig, als wollten linksalternative Akademiker_innen den
„kleinen Mann auf der Straße“ von ihren Ansichten überzeugen, doch der
Ringrat funktioniert anders: Die Studierenden hören in erster Linie zu,
sind an den Meinungen der anderen interessiert, lassen den Ausgang der
Unterhaltungen offen. Und wer von der Arbeit erschöpft ist und einfach nur
nach Hause fahren will, dem wird auch kein Gespräch aufgezwungen.
„Wollen Sie vielleicht einen Eistee?“, fragt Löwe freundlich lächelnd in
die Runde der Reisenden, die halb neugierig, halb abwesend den mit Bechern,
Flyern und Snacks gefüllten Tisch in der Mitte des Abteils zur Kenntnis
nehmen – sicher nicht das Merkwürdigste, was sie in der Berliner S-Bahn
schon gesehen haben. „Warum nicht?“, sagt eine Frau und nimmt gleich noch
einen der Flyer in die Hand.
Das Abteil ist voll, es ist heiß. In einigen Ecken kommen nach dem
Eisteeangebot aber tatsächlich erste Gespräche zustande, schnell geht es
um die „Welcome to Hell“-Demo in Hamburg: „Bevor es überhaupt losging, h…
die Polizei angefangen, auf die Demonstranten einzuprügeln – das fand ich
so extrem! Das konnte ich gar nicht glauben“, sagt eine Frau, nachdem Löwe
ihr erklärt hat, was das Thema des heutigen Ringrats ist. „Da muss man
sich nicht wundern, dass es zu Gewalt kommt.“ Auf der anderen Seite des
Abteils hört man auch andere Meinungen: „Aus dem Motto „Welcome to Hell“
lässt sich ja schon schließen, dass das keine friedliche Demo ist“, sagt
ein junger Mann, der mit einer der Studentinnen diskutiert.
Manche Gespräche dauern nur ein paar Minuten, bis jemand seine Station
erreicht hat, andere gehen fast eine halbe Stunde – so manche_r vergisst
dabei sogar sein Fahrtziel. Ein älterer Herr mit grauem Vollbart redet
lebhaft mit Tom Müller über die Rolle der Polizei: „Dass Polizisten
identifizierbar sein sollen, das ist so alt wie die ersten
Polizeigesetze!“, sagt er. Doch nun muss er aussteigen, er ist schon
mehrere Stationen zu weit gefahren und fährt jetzt wieder zurück.
Die Meinungen der Reisenden seien überraschend vielfältig, sagt Löwe, der
gerade ein Gespräch mit einer Ungarin hatte: „Die hat gar nicht gestaunt
über das, was in Hamburg passiert ist, sie meinte, in Ungarn passiert das
viel häufiger. In vielen anderen Ländern sei Polizeigewalt fast
alltäglich.“
## Zuhören
Es ist weiterhin voll, Kinderwägen werden hereingeschoben, immer wieder
drücken sich Fahrgäste stoisch an dem Tisch vorbei. Eine Frau fotografiert
mit dem Smartphone die Statistik über verletzte G20-Polizist_innen ab, die
zusammen mit Fotos von den Demos an eines der Fenster geklebt wurde. Ab der
Station „Landsberger Allee“ im Prenzlauer Berg wird es leerer.
Tendenziell diskutieren eher diejenigen mit, die die Meinungen der
Studierenden teilen, aber es gibt auch Ausnahmen: „Bilder lügen nicht“,
sagt ein Mann in Bezug auf die Berichterstattung über G20 und kritisiert
die Krawalle. „Aber die Auswahl der Bilder kann trügerisch sein“, versucht
Löwe dagegen zu argumentieren und verweist auf die zahlreichen friedlichen
Proteste. Doch der Mann bleibt bei seiner Meinung und steigt eine Minute
später aus.
Das ist okay, findet Löwe: Das Ziel sei nicht, andere von irgendetwas zu
überzeugen, sondern überhaupt miteinander zu reden. „Ich habe mich vorhin
mit zwei Italienerinnen unterhalten, die zu mir meinten: In Italien, zum
Beispiel in Rom, sei es total üblich, dass man in der Bahn miteinander
redet und dort sogar Freundschaften schließt.“ In Berlin ist das eher
schwer vorstellbar, doch tatsächlich habe es bislang kaum negative
Reaktionen gegeben, sagt Mara Senger, die Kulturarbeit studiert: „Wir
sorgen dafür, dass man sich wohlfühlt, und schaffen so eine kleine
Wohnzimmeratmosphäre. Im Winter legen wir auch einen Teppich ins Abteil.“
Auch von Bahn-Mitarbeiter_innen gab es bislang keine negative Reaktionen,
obwohl der Ringrat nicht angemeldet ist.
Bei der vorletzten Fahrt gab es allerdings einen kleinen Zwischenfall: Das
Ringrat-Team hatte auf einer linken Website angekündigt, wann und wo man
sich zum nächsten Ringrat treffen werde, und prompt standen vor Beginn der
Fahrt am Bahnsteig 20 Polizist_innen und warteten auf die
Aktivist_innen. Glücklicherweise wussten die Beamt_innen selbst nicht so
genau, wonach sie Ausschau halten sollten. „Wir standen als Gruppe da und
waren noch nicht als 'Ringrat’ zu erkennen“, sagt Löwe. „Die Polizisten
haben uns gefragt, ob wir was von einer S-Bahn-Party wüssten, aber wir
meinten: Nee, wissen wir nicht, und sind in die Gegenrichtung
eingestiegen.“
25 Aug 2017
## AUTOREN
Erik Wenk
## TAGS
Diskurs
S-Bahn Berlin
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