# taz.de -- Grüne Stellen im Grau der Welt | |
> Lyrik Wann immer ein Gedanke schön zu werden beginnt, bricht Jürgen | |
> Becker ab.Sein Journalgedicht „Graugänse über Toronto“ lenkt den Blick | |
> aufs Prosaische | |
Bild: Der Autor Jürgen Becker im Jahr 2014 | |
von Eberhard Geisler | |
Das dichterische Brainstorming überwindet mühelos die Zeiten. Wie in den | |
früheren Texten von Jürgen Becker drängen sich ihm auch heute noch | |
Erinnerungen an die Zeit des Zweiten Weltkriegs auf, als die Rote Armee | |
einmarschierte und die Familie des künftigen Dichters aus Thüringen | |
vertrieben wurde. Ebenso melden sich dem sich selbst überlassenen | |
Bewusstsein Personen oder Ereignisse der jüngeren Vergangenheit, etwa die | |
Fernsehsendungen mit Werner Höfer oder der Boom der Nicki-Pullover. | |
Schließlich findet die unmittelbare Gegenwart Erwähnung: die Zahl der | |
Asylanträge steigt, eine Klimakonferenz findet statt, Hassgesänge stören | |
weltweit den Frieden, die Kanzlerin befindet sich im Selbstgespräch, und | |
Versöhnung ist nicht in Sicht. | |
Mit knapp fünfundachtzig Jahren hat der Georg-Büchner-Preisträger Jürgen | |
Becker erneut einen Gedichtband vorgelegt: „Graugänse über Toronto“. Es | |
handelt sich um ein einziges Langgedicht, in dem der Autor wie gewohnt | |
Prosa und Lyrik zusammenführt und wie in einem Tagebuch Beobachtungen | |
sammelt. Auch dieses Alterswerk ist frisch wie ehedem und überrascht durch | |
seine Formulierungen. | |
Abermals reflektiert Becker die Frage nach den heutigen Möglichkeiten der | |
Literatur. Er ist voller Skepsis dem Sinn des eigenen literarischen Tuns | |
gegenüber und notiert in Abwandlung eines Hölderlin-Worts: „Was bleibet, | |
stiftet der Wetterbericht“. Wenn ein Gedanke schön zu werden beginnt oder | |
zu Illusionen Anlass zu geben scheint, bricht er sofort ab und lenkt den | |
Blick wieder aufs Prosaische, weil nur von dort etwas zu erwarten und nur | |
dieses dem Menschen erreichbar ist. Und wer die Gräuel des Krieges erlebt | |
hat, ist eh stets von Verstummen bedroht. | |
Gleichzeitig feiert die Poesie ihre rätselhafte Kontinuität. Sie muss zwar | |
durch Banalitäten schlingern – etwa vom Spargel im Sonderangebot oder dass | |
die Werkstatt das Schiebedach nicht dicht bekommt –, aber es gibt immer | |
noch Verwunderung über ein Büschel Gras und das Leuchten der Vogelbeeren. | |
Der Lyriker hat es nicht aufgegeben, den Geräuschen der Welt zu lauschen. | |
Er hört den Marder, der nachts auf dem Dachboden rappelt. Bleiben derlei | |
Zeichen von Leben und Sinnhaftigkeit aus, konstatiert er beunruhigt deren | |
Abwesenheit. Wenn der Zündschlüssel des Autos im Off steht, vernimmt er | |
eine „totale Stille“ – er erlaubt sich das Fortbestehen einer gewissen | |
Erwartungshaltung. | |
So viele Autoren, die zu ihrer Zeit Furore machten, sind mittlerweile | |
längst vergessen! Aber doch ist die Erinnerung an Kollegen wie etwa | |
Reinhard Lettau und Helmut Heißenbüttel noch wach. Dichtung ist aufgerufen, | |
die Lage stets neu zu beurteilen; es gibt „kein Durchkommen mit alten | |
Parolen“ mehr. Die Deutung der Vergangenheit ist nicht nach historistischem | |
Muster ein für alle Mal festzulegen, sondern dem unabschließbaren Prozess | |
der einander ablösenden Perspektiven unterworfen. Auch der Surrealismus mit | |
seinen Leistungen kann noch einmal bedenkenswert sein: der Traum wird als | |
paralleles Leben ernst genommen; er schreibt den Tagestext weiter. Es | |
heißt: „Der Horizont ist klar und leer.“ Aber dahinter folgt sogleich: „… | |
scheint es“. Die Fragen bleiben offen. „Das Unsichtbare / macht immer mit | |
…“ | |
Also doch ein vorsichtiger Optimismus: „Hör auf zu suchen, / es ist alles | |
da“. „Du siehst, was / stehenbleibt im Zeitvergehen“. Das mentale | |
Selbstporträt des Dichters bezeugt, dass er für das Glück des Staunens | |
empfänglich geblieben ist. | |
Dieses Journalgedicht kommt unverdrossen und rege wie ein Klavierstück von | |
György Ligeti daher. Es führt eine Kunst vor, die ganz einfach zu gehen | |
scheint, wie es heißt, und jenes Einfache produziert, das laut Brecht so | |
schwer zu machen ist. | |
Es kommt übrigens nicht von ungefähr, dass Becker ausgerechnet die Graugans | |
in den Titel seines Buchs genommen hat. Er knüpft damit an Einsichten der | |
Ästhetik an, die für die Moderne insgesamt maßgeblich sind. Hegel hat von | |
der „Prosa der Welt“ gesprochen, um die bürgerliche Gesellschaft zu | |
charakterisieren, die wenig mehr als ihre Geschäfte kannte und sich nun | |
endgültig in Relativität verflochten fand – für das Denken eines Absoluten | |
war da eben kein Raum mehr. | |
Friedrich Theodor Vischer, ebenfalls im 19. Jahrhundert theoretisierend, | |
forderte von der Literatur zwar noch einmal, grüne Stellen im mittlerweile | |
eingetretenen allgemeinen Grau aufzuweisen, aber jemand wie Wilhelm Raabe | |
sollte bald in tiefer Melancholie feststellen, dass besagtes Grün | |
unwiederbringlich verloren war. In seinen „Akten des Vogelsangs“ heißt es: | |
„Aus Büschen werden Bäume, aus Bäumen Hausmauern, aus Grün Grau.“ Auch | |
Becker hat ja immer wieder die allmähliche Zubetonierung der | |
mitteleuropäischen Landschaft registriert und Einspruch dagegen erhoben. | |
Die Graugans – Sinnbild dieser Lyrik – ist ein Zugvogel, der lange Strecken | |
zurücklegt und sich nur von kurzem Gras ernähren kann, aber sehr rufaktiv | |
ist. Sie ist ein unscheinbares Tier, das sein Wesen erst dem aufmerksamen | |
Blick erschließt, aber von elegantem Flug und weiten Schwingen, die sie | |
durch die Lüfte tragen. | |
Jürgen Becker: „Graugänse über Toronto“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017, 92 | |
Seiten, 20 Euro | |
14 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Eberhard Geisler | |
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