# taz.de -- Komponieren im Kopf | |
> E-Musik Der Komponist Sven Helbig ist unter die Radiomacher gegangen. | |
> Seit Mai verbindet er im Programm von RBB-Radio Eins Techno und | |
> Orchesterwerke, Chormusik aus dem 13. Jahrhundert und Popsongs | |
Bild: „Erst ändert sich der Mensch, dann die Musik.“ Sven Helbig am Platte… | |
von Monika Dietl | |
Neue Musik. Das wäre doch wieder mal was. Soll doch Popmusik weiter | |
vergangene Epochen aufarbeiten; soll sich doch Dance-Music weiter an ihren | |
eigenen Klischees euphorisieren – es ist Zeit für Musiker mit einer neuen | |
Sensibilität, Künstler, die sich dem Komponieren verschrieben haben, die | |
keine Grenzen kennen. Es ist Zeit für die Neuen Meister. | |
Sven Helbig ist einer davon. Als Komponist schreibt er für Orchester und | |
Elektronik, als Performer tourt er mit der elektronischen Version seiner | |
„Pocket Symphonies“ und dem neuen Chorwerk „I Eat the Sun and Drink the | |
Rain“. Dabei sind Laptop und Streichquartett beziehungsweise Laptop und | |
Chor auf der Bühne präsent. | |
Als Produzent und Arrangeur hat Helbig etwa mit Superstars wie den Pet Shop | |
Boys gearbeitet. Sein Musikstudium absolviert er in Dresden, wohin er nach | |
seinem Schlagzeugstudium in New York als Dozent zurückkehrt. 1996 gründet | |
er mit Markus Rindt die Dresdner Sinfoniker, das erste europäische | |
Orchester, das ausschließlich zeitgenössische Werke aufführt. In diesem | |
Jahr ist er Hauskomponist beim spanischen Nationalorchester und Chor | |
Madrid, beim Kammermusikfestival Moritzburg, beim Enescu Festival. Und er | |
besucht auch wieder die Nationaluniversität San Martín in Buenos Aires, die | |
ihm 2013 den hehren Titel „Maestro“ verliehen hat. | |
Und jetzt sitzt der Maestro nachts am Mikrofon von RBB-Radio Eins. | |
Seit Mai passiert dort jeden Donnerstag ab 23 Uhr Unerhörtes. Eine | |
einzigartige Mischung von Klängen aus ganz verschiedenen Genres, aber alle | |
verbunden durch ebendiese Sensibilität der Komponisten, die wie der | |
Moderator genau hinhören und sich in ihr Thema versenken. Es gibt | |
Electronica, Techno und Orchester-Werke, Minimal, Drone-Musik, Chormusik | |
aus dem 13. Jahrhundert und zwischendurch auch mal Popsongs. | |
Das ist neu. Weil es aus einer Perspektive kommt, die Grenzen noch nie | |
gekannt hat. Den Begriff „Crossover“ würde Sven Helbig am liebsten aus dem | |
kollektiven Gedächtnis der Menschheit löschen. Es geht nicht um Genres, | |
sondern um Menschen. | |
Deshalb sind die Geschichten genauso wichtig wie die Musik. Wie die über | |
Abul Mogard, einen Stahlarbeiter aus Serbien, der sich nach seiner | |
Pensionierung elektronisches Equipment kauft und Ambient-Musik macht, die | |
den Stahlwerkslärm seines Lebens transzendiert. | |
Angenehm ist auch, dass die Welt der „Schönen Töne“ eine absolut | |
klischeefreie Zone ist. Ein Künstler, der Musik vorstellt, das ist, als ob | |
man einem Wissenschaftler über die Schulter schauen darf. Klar, einfach und | |
geradlinig, Sven Helbig sendet für dich und dich auch und jeden. Denn für | |
ihn braucht Musik das Publikum. | |
„Mit 20 habe ich mich mit Alban Berg, Webern, Adorno und der Zeit | |
beschäftigt. Mit 22 hat mich mein Lehrer in New York in einen Club zur | |
‚Open Mic Night‘ geschickt, ich war der einzige Weiße. Der Drummer hat vier | |
eingezählt, und während dieser vier Einzähler war ich noch der alte Sven; | |
auf der Eins, da war ich schlagartig jemand Anderes. Auf der Eins begann | |
der ganze Raum zu schwelen und zu brennen, in jedem Menschen war plötzlich | |
das gleiche Feuer entfacht, so dass auf der Bühne nur eine leichte | |
Verdichtung dessen stattfand, was rundum vorhanden war, die gleiche | |
musikalische Seele. Mein gerade begonnenes Streichquartett, mein atonales, | |
hab ich nie wieder angeschaut. Die entwurzelten Adorno-Gedanken, die | |
Publikumsverachtung, die Kunst für sich selbst, für die Zukunft, das war | |
plötzlich nicht mehr mein Ding.“ | |
Die nächsten sechs Jahre spielte Sven Helbig Drums in diversen New Yorker | |
Clubs, er brauchte diese „bedingungslose Ausschließlichkeit“, er wollte nur | |
noch Musik für seine Freunde und seine Familie machen. Später fängt er | |
wieder an zu komponieren, ein junger Meister ohne Kompositionsausbildung. | |
„Man kann nicht immer die Verantwortung an eine Akademie abgeben, das finde | |
ich auch ein bisschen einfach. Das haben wir jetzt in unserem System so | |
verinnerlicht, aber man kann auch alles, so wie die alten Meister, als | |
Autodidakt lernen. In der Sendung hatte ich Musik von dem kanadischen | |
Produzenten Venetian Snares, den halte ich für ein Jahrhunderttalent. Er | |
setzt jede einzelne Note wie einen Pinselstrich in einem Van Gogh oder wie | |
eine Note in einer Orchesterpartitur. Aber er benutzt kein Orchester, | |
sondern ein Modularsystem. Die Welt hat sich entwickelt, es gibt | |
Komponisten, die ohne klassische Instrumente komplex komponieren, wo | |
Zuhörer ihre Seelen bis in den tiefsten Grund ausloten können, ohne dass da | |
eine Saite auf einem Holzbrett schwingt.“ | |
Jede Note schreiben, kein Zufall, keine Zufallsgeneratoren, das erfordert | |
Vorstellungskraft. Sven Helbig will dabei nicht einmal abgelenkt sein vom | |
Klang eines Instruments, und so komponiert er im Kopf. | |
„Das ist eine Art Meditation. Ich mache Yoga jetzt seit 27 Jahren. Ich | |
sitze irgendwo oder gehe spazieren und versuche mir die Musik vorzustellen. | |
Das ist die schlimmste Zeit, das ewige Warten. Irgendwann ist ein Anfang | |
da, und wenn ich mir die Musik bis zum Ende vorstellen kann, erst dann | |
fange ich an aufzuschreiben.“ | |
Ein weiter Weg, seit man in den 1960er Jahren damit anfing, klassische | |
Werke auf dem Synthesizer zu spielen. Inzwischen ist halb Detroit von | |
Computer auf Orchester umgestiegen: Jeff Mills, Derrick May, Carl Craig. | |
Francesco Tristano, der mit den Detroitern arbeitet, ist, genau wie der | |
Brite Matthew Herbert und Paul Frick von den Berghain-Lieblingen Brandt, | |
Brauer, Frick auf einem Konzertmitschnitt von Helbigs Label zu finden: Von | |
„Neue Meister“, der Plattenfirma. | |
Was nun die Weiterentwicklung der Musik angeht – „mit einem | |
Mechanikerbewusstsein, das Teile aneinanderklebt, funktioniert das nicht, | |
sondern muss aus der Veränderung des Lebens, unseres Seins, entspringen. | |
Erst ändert sich der Mensch, dann die Musik.“ | |
Sven Helbig hat kein Manifest, er diktiert niemandem die Musik, er schwingt | |
keine Fahnen. | |
„Ich will überhaupt nichts. Ich will lernen und mein Leben vernünftig | |
leben, wie man das auch in einer guten Erziehung macht: Man lebt seine | |
Ideale in der Hoffnung, dass mal einer hinschaut.“ | |
Word up, G. | |
„Schöne Töne“ mit Sven Helbig läuft jeweils am Donnerstag im Programm von | |
RBB-Radio Eins um 23 Uhr | |
7 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Monika Dietl | |
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